«Sion 2026»: Das olympische Trauma

Nr. 23 –

Diesen Sonntag stimmt das Wallis über die Kandidatur für die Olympischen Winterspiele ab. Die Skepsis in der Bevölkerung ist gross – auch weil unklar ist, welche Folgen der Grossanlass wirklich hätte.

«Tausende von Personen werden auf der Planta zu Sitten zum grossen Olympiafest erwartet, wenn IOC-Präsident Samaranch Sitten als Sieger für die Winterspiele 2006 verkündet.» Das sagte der damalige Stadtpräsident François Mudry am 17. Juni 1999 in einem Interview mit dem «Walliser Boten». Es sollte anders kommen. Zwei Tage später vergab das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Olympischen Winterspiele 2006 an Turin und stürzte damit einen ganzen Kanton in kollektive Trauer.

Aus dem Volksfest auf der Planta wurde nichts. Tausende verliessen den Platz innerhalb von Minuten tief enttäuscht. Über Wochen hinweg hatten die Walliser Medien den sehnlichst erwarteten Sieg der eigenen Kandidatur herbeifantasiert. Dass eine andere Stadt den Vorzug erhalten könnte, schien undenkbar, Mudrys Aussage war insofern symptomatisch für die damalige Zuversicht.

Euphorie? Fehlanzeige!

Nun wagt man nach dem Trauma von 1999 erneut einen Versuch, die Olympischen und Paralympischen Winterspiele ins Wallis zu holen. Aber knapp zwanzig Jahre später präsentiert sich die Situation völlig anders. Von der damaligen Euphorie ist nicht mehr viel zu spüren. Wenn am kommenden Sonntag die Walliser Stimmbevölkerung über den kantonalen Unterstützungsbeitrag für «Sion 2026» entscheidet, könnte das bereits das vorzeitige Ende des Projekts bedeuten. Gemäss einer Umfrage der Forschungsstelle Sotomo, die im Auftrag des Westschweizer Radios und Fernsehens (RTS) durchgeführt wurde, lehnen rund 58 Prozent der WalliserInnen das Projekt ab. Bereits bei einer früheren Umfrage von fünf Walliser Medien lagen die OlympiagegnerInnen leicht im Vorsprung.

Von den rund 100 Millionen Franken, über die am kommenden Sonntag abgestimmt wird, würden rund 60 Millionen in die dauerhafte Infrastruktur fliessen. Eine Region, die von diesem Geldsegen besonders profitieren würde, ist das Goms: 32 Millionen sollen hier in zwei Bauprojekte fliessen. 20 Millionen sind für das Feriendorf in Fiesch vorgesehen; 12 Millionen für den Bau eines Nordischen Zentrums in der Gemeinde Goms.

Fiesch ist schweizweit bekannt. Schulklassen aus der ganzen Schweiz besuchen das dortige Resort für Sport- und Ferienlager. Doch das Feriendorf ist mittlerweile in die Jahre gekommen. Letztes Jahr feierte es sein fünfzigjähriges Bestehen. Eine Sanierung ist dringend notwendig. Lange Zeit hoffte man in Fiesch darauf, zum nationalen Schneesportzentrum erklärt zu werden. Doch zuerst gab der Bundesrat der Lenzerheide den Vorzug – und sistierte dann im März 2016 die Planungen für ein nationales Schneesportzentrum. Auf finanzielle Hilfe von dieser Seite durfte die Genossenschaft, der das Feriendorf gehört, nicht mehr hoffen.

Zusätzlich blieben die Übernachtungen von Armeeangehörigen aus. Gerade für strukturschwache Regionen wie das Goms stellte das Militär lange Zeit einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar; er ist in den letzten Jahrzehnten weggefallen. Auch aus Ulrichen, das mittlerweile zur fusionierten Gemeinde Obergoms gehört, zog sich die Schweizer Armee 1999 mit der Einstellung des Betriebs des Militärflugplatzes zurück. Heute starten in Ulrichen nur noch zivile Flugzeuge – leere Hangars erinnern an die Zeit, als die Armee noch im Goms stationiert war.

Geht es nach den InitiantInnen der Olympischen Winterspiele, sollen 2026 auf dem ehemaligen Flugplatzgelände Zuschauertribünen für Tausende von Menschen stehen, die die olympischen AthletInnen anfeuern. Auf der anderen Seite der Rhone steht heute ein kleines Nordisches Zentrum. Es verfügt über Umkleidekabinen und Duschen. Im Zuge der Olympischen Spiele sollen hier 12 Millionen Franken investiert werden. Das Geld flösse gemäss dem Kandidaturkomitee in den Umbau dreier alter Militärhangars und in die Erstellung einer Langlaufstrecke, die den Richtlinien des Internationalen Skiverbands entspricht. Dazu gehören unter anderem Investitionen für künstliche Beschneiungsanlagen. Während im Kandidaturdossier noch geschrieben steht, dass das Wallis die für Olympische Winterspiele benötigte Schneesicherheit garantieren könne, sollen gleichzeitig Millionen in künstliche Beschneiungsanlagen fliessen. Man muss der Realität ins Auge blicken: In Zeiten des Klimawandels gibt es Schneesicherheit auch auf 1300 Meter über Meer nicht mehr.

Karolin Wirthner, Vorstandsmitglied der BürgerInnenvereinigung Inns Goms, kritisiert die Olympiapläne harsch: «Das Projekt versucht einmal mehr, nach den Sternen zu greifen. Dabei gibt es viele kleinere Projekte, die die Unterstützung dringender nötig hätten», sagt sie. «Die Politik träumt von Olympischen Spielen, gleichzeitig kämpft der Skilift in Gluringen ums Überleben, derjenige am Hungerberg musste bereits schliessen, und auch die Zukunft des Schwimmbads in Reckingen ist ungewiss.» Im Winter sei man bereits an den Kapazitätsgrenzen angelangt. Es ergäbe viel mehr Sinn, man würde sich vermehrt für Angebote des Sommer- und Herbsttourismus einsetzen, sagt Wirthner. Hier sei noch viel ungenutztes Potenzial vorhanden.

Befeuerte Zweifel

Klar ist: Im Goms würde man sich über ein paar zusätzliche durch die Olympischen Spiele investierte Millionen freuen. Gleichzeitig irritierte Bernhard Schwestermann, der Gemeindepräsident von Fiesch, Anfang Mai mit einer Aussage im «Walliser Boten». Er machte klar, dass die Sanierung des Feriendorfs Fiesch so oder so kommen werde. Ohne Olympische Winterspiele würde sie aber in Etappen erfolgen. Und auch die Gemeinde Goms will den Ausbau des Nordischen Zentrums unabhängig von der Kandidatur «Sion 2026» vorantreiben. Was die Zweifel an der Kandidatur zerstreuen sollte, könnte sie befeuert haben.

Allgemein bleibt die Skepsis im Wallis gegenüber «Sion 2026» gross. Mitte Mai versuchte der Walliser Staatsrat, diese Bedenken an einer Medienkonferenz auszuräumen, und wies auf die Chancen von Olympischen Winterspielen im Wallis hin. Dabei operierte er auch mit falschen Zahlen: 6000 Arbeitsplätze sollten durch die Spiele generiert werden, allein 1750 für deren Organisation. Diese Zahlen stammen, wie der WOZ auf Anfrage mitgeteilt wurde, aus der Studie «Olympische Winterspiele 2026 in der Schweiz» von der Rütter Soceco AG und dem Institut für Tourismuswirtschaft der Hochschule Luzern. Die Berechnungen beziehen sich jedoch nicht auf das Projekt «Sion 2026», sondern basieren auf einem von Swiss Olympic vorgegebenen Rahmenbudget. Von der Kandidatur «Sion 2026» wusste damals noch niemand etwas. Kurz: Die Zahl der vom Walliser Staatsrat prognostizierten Arbeitsplätze, die durch «Sion 2026» geschaffen werden sollen, stimmt schlichtweg nicht.

Das zeigt, mit welcher Verzweiflung die BefürworterInnen der Spiele ihre Kampagne vorantreiben. Die beiden Umfragen dürften zu einer enormen Verunsicherung im Kandidaturkomitee geführt haben. Die Walliser Bevölkerung ist misstrauisch gegenüber den InitiantInnen und dem IOC. Dieses gibt vor, mit der Agenda 2020 einen Kurswechsel bei den Olympischen Spielen herbeiführen zu wollen: Die Transparenz soll erhöht, Kosten gesenkt und ethisches Verhalten gestärkt werden, so zumindest lautet der Plan. Beschlossen wurde die Agenda an der IOC-Vollversammlung 2014 in Monte Carlo. Ein Jahr später erfolgte die Vergabe der Olympischen Winterspiele 2022. Den Zuschlag erhielt Beijing – eine der niederschlagsärmsten Regionen der Welt, die wahrlich nicht als Wintersportdestination bekannt ist. Und genau auf diese Agenda 2020 setzt die Kandidatur «Sion 2026» all ihre Hoffnungen.

Dezentralisierung als Nachteil

Man kann den InitiantInnen vieles vorwerfen. Bei der Zusammenstellung des Dossiers allerdings haben sie sich viel Mühe gegeben, es allen recht zu machen. Grösstenteils setzt man für «Sion 2026» auf bestehende Infrastrukturen und versucht, auf zu viele Neubauten zu verzichten. Damit wollte man die Umweltverbände beruhigen. Ironischerweise könnte der Kandidatur nun aber genau dies zum Verhängnis werden: Neben Sion kämpfen sechs weitere Destinationen um die Olympischen Winterspiele 2026. Mit Turin, Calgary oder Stockholm sind durchaus namhafte Konkurrenten darunter. Genau diesen könnten die IOC-Delegierten im Zweifel den Vorzug geben.

In einem Interview mit dem «SonntagsBlick» sagte IOC-Präsident Thomas Bach, dass der olympische Geist im olympischen Dorf lebe, das mache die Faszination der Olympischen Spiele aus. Doch beim Projekt «Sion 2026» wären – im Gegensatz zu anderen Kandidaturen – nur rund die Hälfte der AthletInnen im olympischen Dorf untergebracht. Der Rest verteilte sich auf Hotels und Einrichtungen wie das Feriendorf Fiesch. Der Eisschnelllauf könnte gar in den Niederlanden stattfinden, zurzeit werden noch verschiedene Optionen geprüft. Es bestehen berechtigte Zweifel, ob das IOC tatsächlich an einer solchen Dezentralisierung der Olympischen Spiele interessiert ist.

Gut möglich, dass es gar nicht so weit kommt. Am kommenden Sonntag könnte die Walliser Bevölkerung die Olympiaträume bereits versenken. Das Trauma – es soll sich nicht wiederholen.