Ausstellung: Ein Grossexperiment der neuen KapitalistInnen

Nr. 35 –

Ein KünstlerInnenkollektiv belebt die seit vier Jahren leer stehenden Kammgarn-Hallen in Schaffhausen, auf den Spuren von Beuys’ Konzept der sozialen Plastik.

Wo einst das Werk «Das Kapital» zu sehen war, ist man heute in Sachen Getränkepreise der Willkür ausgesetzt. Immerhin klingt die Sitzbank. Foto: Philip Böni

Die Stadt Schaffhausen hat ihr Kapital verloren, im doppelten Sinne. Bis vor vier Jahren stand Beuys’ Werk «Das Kapital, Raum 1970 bis 1977» in den Hallen für Neue Kunst. Es gilt als eines der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts. Das KuratorInnenpaar Urs und Christel Raussmüller hatte aus den alten Industriehallen der ehemaligen Textilfabrik eigens für dieses Werk einen festen Standort geschaffen. Diese Umnutzung der alten Industriehalle war eine der ersten ihrer Art. Dreissig Jahre lang war «Das Kapital» hier musealisiert und blieb einer tendenziell isolierten Kunstwelt vorenthalten. Nach einem zehnjährigen Rechtsstreit mit dem KuratorInnenpaar verkauften die Eigentümer das Werk vor vier Jahren für rund 30 Millionen Euro an den Kunstmäzen Erich Marx. Raussmüllers zogen aus den Hallen aus.

Rehabilitation des Verpönten

Es sind gewaltige weisse Räume, und der Geruch des Schmieröls der einst hier stampfenden Fabrikmaschinen hat sich tief in die Gemäuer gefressen. Im Treppenhaus begegnet man Parolen in dicken schwarzen Lettern wie: «Kunst für all jene, die Angst vor der Kunst haben». Nach vier Jahren Leerstand wurden die Hallen für die Dauer der Ausstellung «Das Kapital ist weg – Wir sind das Kapital» an ein junges KünstlerInnenkollektiv vermietet. Die künstlerische Leiterin, Ana Baumgart, betont, dass man die Räume möglichst breit öffnen möchte. Im Gegensatz zur Auffassung, Kunstbetrachtung brauche den sterilen Elfenbeinturm und einen klaren Abstand zu Alltagshandlungen, will das lose Kollektiv Zwischenraum die Grenze zwischen Kunst und Leben perforieren. Es schliesst damit nahtlos an Beuys’ universalistische Idee der sozialen Plastik an: Jeder Mensch ist Künstler, unser wahres Kapital ist unsere Kreativität. Und: Jeder und jede kann zu profunden gesellschaftlichen Veränderungen beitragen.

Als selbsternannte «KapitalistInnen» lädt das Kollektiv zur Ausstellung mit dreissig internationalen KünstlerInnen ein. Sie haben sich diesen verpönten Begriff angeeignet, um das monetäre Kapital langsam von seinem Sockel zu holen und durch ein neues Ethos zu ersetzen: ein Ethos der Kreativität. Aber kann man so etwas in Zeiten einer warenförmigen Vereinnahmung des Kreativen – deren Wegbereiter wohl gerade die Generation Beuys war – ohne Zynismus anbieten? Zynisch meint es das energiegeladene Team in keiner Weise, wenn es die Hallen zu einem offenen Spielfeld des Ausprobierens und Scheiterns erklärt. Das Kollektiv ist sich des Widerspruchs, dem es sich aussetzt, durchaus bewusst: Schliesslich, so liest man in der Ausstellungszeitung, kenne Kultur auch nur die harte Währung, sei es in Form von Fördergeldern oder des Kunstmarkts. Auch Kreativität lässt sich nicht bruchlos als Allheilmittel gegen unerwünschte Machtmechanismen einsetzen, sondern ist mit ihnen verquickt. Gleichwohl wagt das Kollektiv die volle Affirmation des heute ebenso verpönten wie veralteten Kreativitätsbegriffs.

Offene Gegenwart

Hat man dabei den Beuys’schen Anspruch, die Gegenwart transformieren zu wollen, kann man fast nur scheitern. Doch was bleibt anderes übrig, als um ästhetische Formen zu ringen oder es gleich ganz sein zu lassen und stattdessen aktivistisch vorzugehen? Die dreissig KünstlerInnen suchen also nach je eigenen Formen, die bestenfalls gesellschaftlich etwas bewirken – aber eben nicht individuell, sondern in einem gemeinsamen Ausstellungszusammenhang, in dem es auch nicht nur um ein Endprodukt geht.

Überall im Ausstellungsraum liegen Schlafsäcke neben Werken, dazu Badehosen, Flipflops und ein Tisch voller Essen: Hier wird gerade wirklich gelebt. Im Zentrum der ersten Halle bläst sich alle zwanzig Minuten mit Generatorenlärm ein überdimensionales schwarzes Luftschloss auf, wenige Meter entfernt steht eine unscheinbare Vitrine, mit einer noch unscheinbareren versilberten Biene darin. Die Arbeit scheint aus der Postapokalypse zu sprechen, von «damals, als es noch diese wundersamen kleinen Geschöpfe gab».

Im Raum dahinter ist das Herzstück der Ausstellung, am ehemaligen Standort von Beuys’ «Kapital». Der Künstler Linus Maurmann hat eine Bar mit Bänken aus Beton und Holz installiert, die zu klingen beginnen, sobald man sich draufsetzt. Ein Zufallsgenerator bestimmt den Bier- und Weinpreis, sollte es zu teuer werden, muss man eben miteinander ins Gespräch kommen. In einer weiteren Halle kann man vor den Bildern des Künstlerduos «mouselephant» verweilen. Aus der Ferne haben sie intensiv über die mittelalterliche Stadt Schaffhausen recherchiert und führen anhand von architektonischen Elementen durch Epochen, Religion und Handel hin zu einer eher dystopischen Zukunft, die aber Gestaltungsraum offenlässt.

Am Mittwoch vor der Eröffnung tickt jedoch noch die Uhr der Ausstellungslogik: Der Katalog geht gerade in den Druck, einige Arbeiten sind erst halb fertig. Ana Baumgart witzelt: «Demokratie braucht Zeit, wir haben aber keine Zeit.» Man sollte sie sich nehmen, um nach Schaffhausen zu fahren. Auch wenn einige Arbeiten aus dem ambitionierten Ausstellungszusammenhang herausfallen.

«Das Kapital ist weg – Wir sind das Kapital»: Schaffhausen, Kammgarn West, Baumgartenstrasse 23, bis 15. September 2018. www.zwischenraum-sh.ch