Kommentar zu den Bundesratswahlen: Scheinheilig gegen Rytz

Nr. 48 –

Der Auftrag der WählerInnen ist klar: Die Grünen gehören in den Bundesrat. Wie die Rechte das verneint, irritiert – und könnte sich rächen.

Die Grüne Regula Rytz will in den Bundesrat. Doch die Opposition, der sie begegnet, ist riesig. Die CVP-Fraktion lädt Rytz noch nicht einmal zu einem Hearing ein. Dass die GLP am Dienstag angekündigt hat, die abtretende Parteipräsidentin anzuhören, erhöht ihre Chancen nur wenig. Ohne die Stimmen der grössten Mittepartei ist Rytz chancenlos.

Dieses Verhalten irritiert. Gut fünf Wochen ist es her, da legten die Grünen bei den Parlamentswahlen in für Schweizer Verhältnisse historischem Ausmass zu. Sechs Prozentpunkte mehr. Die Sitzzahl im Nationalrat auf 28 mehr als verdoppelt. Mit den letzten Ständeratswahlgängen vom Wochenende bestätigte sich die grüne Welle: Rytz’ Partei legte in der kleinen Kammer um vier auf fünf Sitze zu. Dass die Grünen nun Anspruch auf einen Bundesratssitz erheben: geschenkt. Dass darüber diskutiert wird, ob dieser Anspruch bereits gerechtfertigt ist: ebenfalls. Schliesslich ist nichts so kompliziert wie die Schweizer Konkordanz.

Das gilt zumindest seit dem Jahr 2003, als Christoph Blocher in den Bundesrat gewählt und die davor jahrzehntelang in Stein gemeisselte Zauberformel umgestossen wurde. Die politischen Verhältnisse sind in den letzten Jahren immer volatiler geworden. Wie soll man damit umgehen, dass es bei Wahlen heute zu grösseren Verschiebungen kommt als früher? Klar ist derzeit nur eines: Die FDP ist im Bundesrat mit 15 Prozent WählerInnenanteil massiv übervertreten, die Grünen sind mit 13 Prozent ohne Sitz untervertreten. Müsste die FDP ihren zweiten Sitz abgeben, käme aber auch die SP mit nur noch knapp 17 Prozent unter Druck. Manche wollen nun den Wechsel zu einem System, das nach jeden Wahlen die WählerInnenanteile in einem neu zusammengesetzten Bundesrat abbildet. CVP-Präsident Gerhard Pfister schlägt ein Modell vor, bei dem die addierten Sitze der Fraktion aus National- und Ständerat ausschlaggebend wären.

Natürlich kann man die Frage stellen, ob die grüne Kandidatur zu früh kommt – und ob sie taktisch klug ist. Ob es den Grünen und ihren Anliegen nicht gar mehr nützen würde, in den nächsten vier Jahren eine druckvolle Oppositionspolitik zu machen. Was jedoch irritiert, ist die Arroganz und Scheinheiligkeit, mit der Rytz’ Kandidatur abgetan wird. Da ist in allererster Linie die CVP – deren Präsident sich in der Sonntagspresse als bedachter Integrierer hervortun konnte. Der Entscheid seiner Fraktion aber zeugt von einem anderen Interesse. Die ChristdemokratInnen haben sich unter Pfister auf ihre katholisch-konservative Stammlande fokussiert, eine rechte Kehrtwende vollzogen. Nun will die Mehrheit der CVP-Fraktion nicht einmal ansatzweise den Eindruck erwecken, man erwäge eine Wahl von Regula Rytz. Die CVP stützt stattdessen die rechte Mehrheit im Bundesrat – die mit diesen Wahlen jede Legitimität verloren hat: Die Parteien rechts der CVP halten im Nationalrat statt 101 noch 84 Sitze, also gut 40 Prozent. Im Bundesrat haben sie mit vier von sieben VertreterInnen Entscheidungsmacht.

Und die Presse? Fordert Rytz auf, erst einmal ihre Konkordanzfähigkeit unter Beweis zu stellen. Nicht nur die NZZ, die Ignazio Cassis erwartungsgemäss reflexhaft verteidigt. Auch der «Tages-Anzeiger» fragt, ob Rytz konsensfähig genug sei. Ob sie fähig sei, Bundesratsentscheide mitzutragen. Ganz so, als sässen in der Regierung nicht seit Jahren Rechtspopulisten, die – ganz im Gegensatz zu den Grünen – die Demokratie fundamental angreifen. Und auch ein bisschen so, als wäre keine andere Bundesratspolitik möglich als eine rechtsbürgerliche. Undenkbar fast schon, dass die Schweiz dereinst mit einem etwas weltoffeneren Gesicht auftreten könnte.

Diesen KommentatorInnen muss man wohl die Bedeutung der Wahlen in Erinnerung rufen. Sie waren historisch, weil die Grünen von einer Welle des Protests ins Parlament gespült wurden. Die Klimakatastrophe ist die grösste Bedrohung unserer Zeit. Die WählerInnen haben der Politik am 20. Oktober den Auftrag gegeben, diese nicht weiter zu ignorieren. Sie wollen die Grünen in der Mitverantwortung. Falls sich die rechte Mehrheit dieser Forderung verweigert, verleiht sie ihr damit nur noch mehr Schub.