Gesundheitspolitik in den USA: Kranksein muss man sich leisten können

Nr. 12 –

Mit jedem Tag wird offensichtlicher, wie wenig die USA auf eine Pandemie vorbereitet sind – und wie dysfunktional das Gesundheitssystem bereits im Normalzustand ist.

Es gibt in den USA mehr als doppelt so viele Gefängnisplätze wie Krankenhausbetten. Das ist so ein Fakt, einer von unzähligen, der viel über die politischen Abgründe des Gesundheitssystems erzählt. Und die Abgründe waren selten so sichtbar wie in diesen Tagen und Wochen, jetzt, da eine Pandemie das Land in Beschlag nimmt.

Donald Trump, der wohl unfähigste Präsident der US-Geschichte, hatte Corona erst ignoriert, lange gar keine Informationen zur aktuellen Lage veröffentlicht, danach die Gefahren heruntergespielt, etliche Lügen in die Welt gesetzt, dann Massnahmen zur Eindämmung verhindert und, als es viel zu spät war, letzte Woche erst, den nationalen Notstand ausgerufen. «Zwei sehr grosse Worte», faselte Trump bei der Pressekonferenz vor dem Weissen Haus, zu der er mehrere ExpertInnen eingeladen hatte, denen er vor laufenden Kameras – als würde er seine unendliche Dämlichkeit und Verantwortungslosigkeit noch mal beweisen wollen – die Hände schüttelte.

Bis zum kompletten Shutdown

Das Ausmass der humanitären Katastrophe, auf die sich das Land zubewegt, lässt sich zu diesem Zeitpunkt kaum voraussagen. Das Virus beginnt gerade erst, sich auszubreiten. Viel zu wenige Menschen werden bislang getestet, viel zu viele laufen noch durch die Städte. Doch es kursieren bereits Zahlen, die Angst machen. Bis zu 214 Millionen US-AmerikanerInnen könnten sich im schlimmsten Fall infizieren, bis zu 1,7 Millionen Tote drohen bei diesem Szenario, so berichtete es die «New York Times» vor ein paar Tagen mit Bezug auf interne Schätzungen der Centers for Disease Control and Prevention.

Die Bürgermeisterinnen und Gouverneure schwankten wochenlang zwischen konsequenter Prävention und Panikvermeidung. Mittlerweile haben immer mehr Bundesstaaten ihre Schulen, Museen, Kinos, Bibliotheken und weitere öffentliche Einrichtungen geschlossen, in immer mehr Städten sind auch die Restaurants, Cafés und Bars zu.

In New York erlebt man allerdings auch, mit welch unterschiedlichem Tempo der Ausnahmezustand bei den Leuten ankommt – beziehungsweise wer beim Ausnahmezustand mitmachen darf. Gesunde Menschen sitzen zu Hause, weil ihre ChefInnen Einsicht zeigten (oder sie dazu verpflichtet wurden). Kranke schleppen sich zur Arbeit, weil sie sich den Verdienstausfall nicht leisten können. Während sich die Behörden auf einen kompletten Shutdown, eine Stilllegung des öffentlichen Lebens, vorbereiten und viele Menschen seit Tagen die mit Konserven ausgestatteten Wohnungen nicht mehr verlassen, sind die Strassen und Parks immer noch voll. Nicht selten ist es wohl Ignoranz, in anderen Fällen Wissensmangel. Zu oft haben Leute keine andere Wahl, sie müssen für ihre NachbarInnen oder Familien einkaufen.

Mit jedem Tag wird offensichtlicher, wie wenig das US-Gesundheitssystem, das dreissig Millionen Menschen gänzlich unversichert lässt, auf eine Pandemie vorbereitet ist. Krankenhäuser melden schon jetzt einen Mangel an Betten, Personal, Beatmungs- und Atemschutzgeräten und anderen Ressourcen. Arzt- oder Krankenhausbesuche können selbst für Versicherte so teuer werden, dass viele es lieber sein lassen. Letztlich wird mit jedem Tag offensichtlicher, wie dysfunktional das US-Gesundheitssystem auch im Normalzustand ist.

Wahlkampf in der Coronakrise

Es war interessant zu beobachten, wie sich die zwei verbliebenen Kandidaten der DemokratInnen für das Präsidentenamt, Joe Biden und Bernie Sanders, bei der TV-Debatte am Sonntag dem Thema näherten. Das Gespräch war von Phoenix nach Washington verlegt worden, wo es in einem nahezu leeren Studio stattfand. Ob die weiteren Vorwahltermine eingehalten werden, ist noch unklar. Nicht ausgeschlossen, dass sogar die Wahl im November verschoben wird.

Biden sprach von einem «Krieg gegen das Virus» und schilderte, wie er die Pandemie bekämpfen würde, sässe er im «Situation Room» des Weissen Hauses. Also dort, wo 2011 die ikonischen Bilder mit Expräsident Barack Obama entstanden, der per Liveübertragung die Tötung des Al-Kaida-Chefs Osama Bin Laden mitverfolgte. Bidens Botschaft war eindeutig: Die Krise findet jetzt statt.

Sanders nannte Massnahmen, die aktuell und dringend getroffen werden müssten, unter anderem kostenlose Behandlungen und Medikamente für alle Covid-19-PatientInnen sowie bezahlte Krankentage. Doch anders als Biden verknüpfte der Senator aus Vermont die aktuelle Krise immer wieder mit den strukturellen Problemen. «Wir sind das einzige grosse Land auf der Erde, das nicht allen Menschen eine Gesundheitsversorgung garantiert», sagte Sanders und warb für «Medicare for All», seinen Vorschlag einer staatlichen Krankenversicherung.

Nach den bisherigen Vorwahlen liegt Biden vorne, viele scheinen ihm zu vertrauen, weil er Stabilität verkörpert – so zweifelhaft dieses Bild auch ist. Aus Sanders’ Perspektive könnte eine Hoffnung darin liegen, dass der Ausnahmezustand zur Reflexion über den Normalzustand führt. Dass Alternativen zum Kapitalismus ernsthaft diskutiert, neue Formen der Solidarität institutionalisiert werden. Dass Entscheidungen, die angesichts der Krise getroffen werden – wie zum Beispiel der Stopp von Zwangsräumungen in New York oder die Freilassung älterer Gefängnisinsassen in Ohio –, der Anfang eines Umdenkens sind.