Hotspot USA: Fürchtet den Wahrheitsmacher
Vor knapp einer Woche ist US-Präsident Donald Trump mit bedrohlichen Covid-19-Symptomen ins Walter-Reed-Militärspital in Maryland geflogen worden. Seither haben sich in den Vereinigten Staaten 250 000 Menschen mit dem Virus infiziert, 4000 sind daran gestorben. Das ist die traurige Wirklichkeit: ein Land mit bislang 7,5 Millionen bestätigten Coronafällen, über 210 000 Coronatoten und einer hohen, zurzeit noch steigenden Infektionsrate.
Kaum hatte der Präsident dank mit Steuergeldern finanzierter medizinischer Vorzugsbetreuung die erste Hürde der Erkrankung genommen, verkündete er wie ein voreiliger Weihnachtsengel: «Fürchtet euch nicht!» Covid-19 sei auch nicht schlimmer als die Grippe, und man dürfe sich von dem Virus nicht das Leben diktieren lassen. Sprachs und riss sich – Ansteckungsgefahr hin oder her – theatralisch die Maske vom Gesicht, als er ins Weisse Haus zurückkehrte, den zurzeit heissesten Corona-Hotspot der USA.
Zweckoptimistische US-AmerikanerInnen haben für kurze Zeit gedacht, der Präsident werde aus seiner persönlichen Covid-19-Krise als geläuterter Mensch hervorgehen und die Bedrohlichkeit der Pandemie endlich anerkennen. David Sirota, Redaktor beim linken US-Magazin «Jacobin», schrieb: «Wenn Trump den Glauben personifiziert, dass die Wirklichkeit keine Rolle spielt, so ist das Virus die Verkörperung der Idee, dass die Wirklichkeit immer das letzte Wort hat. (…) Vielleicht hört unsere Gesellschaft nun endlich auf, so zu tun, als ob wir die Realität ignorieren könnten.»
Doch was heisst schon «unsere Gesellschaft»? Wer in der Coronakrise Familienangehörige oder FreundInnen beerdigen musste, kann die Wirklichkeit bestimmt nicht leugnen. Wer die Arbeitsstelle verloren hat oder die Kinder nicht mehr ernähren kann, spürt die existenzielle Bedrohung jeden Tag. Es gibt in den USA gegenwärtig zehn Millionen weniger Jobs als Anfang Jahr. Die Erwerbsbeteiligung der Männer ist tiefer denn je. Die Frauen haben den Arbeitsmarkt in Scharen verlassen und leben statistisch wieder in den achtziger Jahren.
Besonders hart trifft die Coronakrise People of Color. Nicht nur sind sie häufiger arbeitslos. Sie erkranken und sterben auch häufiger an Covid-19. Nicht weil das Virus rassistisch ist. Rassistisch sind vielmehr die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie so verletzlich machen: gefährliche Niedriglohnjobs, enge Wohnungen, minderwertige Schulen, schlechte Gesundheitsvorsorge und der Dauerstress der Polizeigewalt. Keinen Moment dürfen AfroamerikanerInnen vergessen, dass sie in einem Land leben, das auf Sklaverei gebaut ist und dessen Regierung heute offen mit White Supremacy sympathisiert.
Die Wirklichkeit ganz oder teilweise zu ignorieren, ist ein Luxus, den sich nur leisten kann, wer die Macht und Mittel hat, um sich – mindestens auf Zeit – eine eigene Scheinwelt zu schaffen. In Donald Trumps «Great America» gibt es keinen Rassismus. Der Wirtschaft im Allgemeinen und dem Trump-Konsortium im Besonderen geht es glänzend. Das Klima kühlt sich von selbst. Die Coronakrise ist so gut wie überwunden. Der Wiederwahl steht nichts im Weg ausser Anarchie und Chaos. Damit meint Trump nicht nur die Black-Lives-Matter-Proteste, sondern auch das «linksradikale» Team Biden / Harris sowie die gesamte Oppositionspartei der DemokratInnen. Und dazu die Fake-Umfragen und die Fake-Medien, die – wie schon vor vier Jahren – voraussagen, dass er die Wahl am 3. November haushoch verlieren wird.
Seit Monaten droht Donald Trump, dass er eine Wahlniederlage mit allen Mitteln verhindern werde: gerichtlich, militärisch, wenn nötig mit bewaffneten Bürgerwehren. Das ist eine grössenwahnsinnige Fantasie. Vom Präsidenten und obersten Kriegsherrn der USA ausgesprochen und gestützt von republikanischen WahrheitsmacherInnen im Kongress, wird diese Kopfgeburt zu einer politischen Realität, die man nicht einfach als dummes Geschwätz abtun sollte.