Coronakrise: Sparen mit Todesfolge
Die Pandemie zwingt der Schweiz eine sozial einschneidende Frage auf, zu der die Parteien eigenartigerweise schweigen: Durchseuchung oder Eindämmung? Als das Land im Frühling von der ersten Welle ergriffen wurde, entschied der Bundesrat die Frage beinahe in Eigenregie: Eindämmung, beschloss er und verhängte im März den Lockdown. Die Debatte verlagerte sich auf die zweite Frage: Wer soll wie viel der Kosten tragen? Die Linke kämpft seither dafür, dass die VerliererInnen mehr Geld erhalten.
Als sich nach der ersten Welle die Frage nach der künftigen Eindämmung erneut stellte, überliess die Schweiz diese den Wirtschaftsverbänden: Economiesuisse forderte vom Bundesrat, keine weiteren Milliarden auszugeben und dafür die Lockdown-Massnahmen schnell aufzuheben (siehe WOZ Nr. 45/2020 ). Der Verband der Konzerne will verhindern, dass weitere Ausgaben in Steuererhöhungen münden. Mit Erfolg: Im Mai kündigte der Bundesrat den Ausstieg aus den Finanzhilfen an und hob Massnahmen auf, Ende Juni liess die Schweiz in ihrer Sorglosigkeit gar Schweden hinter sich. Als die Fallzahlen wieder stiegen, schielten die Kantone auf den Bundesrat, der mit seinen Massnahmen zuwartete, bis die täglichen Neuinfektionen 7000 Fälle überschritten.
Dabei hatten EpidemiologInnen seit dem Sommer eindringlich davor gewarnt. Nun steht die Schweiz bei den Neuinfektionen pro EinwohnerInnen europaweit an der Spitze.
Der Kurs von Economiesuisse stösst selbst bei der Linken auf wenig Widerstand. Diese beschränkt sich weiterhin auf den Kampf für die Entschädigung für KMUs, Selbstständige und Angestellte. Die Gewerkschaften hoffen, dass die Wirtschaft im Interesse der ArbeiterInnen wieder brummt – zudem muss die SP aufpassen, dass sie nicht ihren Bundesrat Alain Berset desavouiert, der den Kurs des bürgerlichen Bundesrats öffentlich vertritt. Und schliesslich gibt es in der Linken einen Flügel, der sich gegen jeglichen Staatseingriff in die individuelle Freiheit wehrt: selbst wenn sich ein solcher gegen starke Wirtschaftsinteressen stellt, um die Schwächeren in der Gesellschaft zu schützen.
Dass die Schweiz die Frage der Eindämmung den Wirtschaftsverbänden überlässt, hat sozial tiefgreifende Folgen: In nur wenigen europäischen Ländern gibt es gemessen an der Bevölkerungszahl Tag für Tag mehr Coronatote als in der Schweiz – aktuell etwa mehr als viermal so viele wie in Deutschland. Hinzu kommen gesundheitliche Langzeitschäden, wie immer mehr Studien belegen. Der Kurs wird zudem auf dem Buckel der ÄrztInnen und des schlecht bezahlten, mehrheitlich weiblichen Pflegepersonals ausgetragen (vgl. «Und immer die Angst vor dem Unvorstellbaren» ). Nachdem im Frühling den Pflegenden noch applaudiert worden war, verwehrte ihnen die bürgerliche Parlamentsmehrheit im Sommer bessere Löhne – bevor sie sehends in die zweite Welle geschickt wurden. Respektlos.
Der von Economiesuisse vorangetriebene Kurs verursacht schliesslich auch einen immensen wirtschaftlichen Schaden, wie unter anderem sechzig ÖkonomInnen von Schweizer Unis in einem offenen Brief warnen. Nebst Kosten im Gesundheitswesen und bei Quarantäneausfällen bedeutet die Ausbreitung des Virus für die Gastro-, Kultur- oder Tourismusbranche einen harten Schlag, der viele Menschen existenziell gefährdet. Das wirtschaftliche Leben wird auch ohne Lockdown lahmgelegt.
Erstaunlich ist, dass viele kleinere Betriebe den Economiesuisse-Kurs weiterhin mittragen. Die Alternative: eine langfristige Eindämmung der Pandemie durch staatliche Massnahmen bei gleichzeitiger grosszügiger Entschädigung der Betriebe und der Angestellten, die durch diese Massnahmen betroffen sind. Die Schweiz könne sich das leisten, schreiben die erwähnten sechzig ÖkonomInnen. An Schweizer Unis scheint der wissenschaftliche, angelsächsische Pragmatismus die bisher dominierende deutsch-protestantische Sparideologie abzulösen.
Wenn die Wirtschaftsleistung um ein paar Prozent schrumpft, ist das für die reiche Schweiz kein Drama. Der Kuchen muss nur etwas gleichmässiger verteilt werden.