Pandemie-Versagen: Die Schweiz im Tunnel

Nr. 51 –

Es scheint ein unendlich langer Tunnel zu sein, die Schweiz auf dem Weg in den Abgrund, wie es Friedrich Dürrenmatt einst in seiner Kurzgeschichte beschrieb. Ein junger Mann sitzt in einem überfüllten Zug, die Fahrt auf einer ihm wenig bekannten Strecke kommt ihm seltsam lang vor. Der Tunnel endet einfach nicht, die Unruhe wächst, die Mitreisenden aber bleiben gelassen. Irgendwann merkt der Protagonist, dass der Lokführer längst abgesprungen ist, die Bremse klemmt, der Zug rast immer weiter.

Ein plötzlicher Schrecken hält Einzug in ein ansonsten geregeltes Leben: Treffender für die Gegenwart in der Pandemie könnte die Parabel von Dürrenmatt, der im kommenden Januar hundert Jahre alt geworden wäre, kaum sein.

Die Rufe nach der Bremse, dem möglichst raschen Lockdown, waren zuletzt nicht mehr zu überhören. Erst meldeten sich am Sonntag Ärzte und Spitaldirektoren aus dem Kanton Zürich zu Wort, zwei Tage später luden sie gleich zur eigenen Medienkonferenz und brüskierten damit den untätigen Regierungsrat. Was sie berichteten, könnte dramatischer nicht sein. Das Gesundheitssystem? Kurz vor dem Kollaps. Das Pflegepersonal? Mit den Kräften am Ende. Geplante Operationen? Mussten verschoben werden. Jedes Wort ein schmerzliches Symbol des Scheiterns.

Auch die wissenschaftliche Taskforce des Bundes und die Konferenz der kantonalen GesundheitsdirektorInnen sagen nun deutlich, dass die geltenden Massnahmen zur Pandemiebekämpfung nicht ausreichen. Dass härtere Einschränkungen alternativlos sind. Dass selbst die Skigebiete – bisher ein nationales Tabu – wohl geschlossen gehören. Ebenso die Restaurants und Läden.

Die Coronainfektionszahlen sinken schon lange nicht mehr wie gewünscht, bestenfalls stagnieren sie, mancherorts steigen sie wieder exponentiell. Das grosse Sterben geht derweil weiter. 5781 Menschen haben ihre Ansteckung mit dem Virus nicht überlebt. Menschen mit Kindern und EnkelInnen, Eltern und FreundInnen. Viele dieser Menschen könnten heute noch leben.

Dieses im europäischen Vergleich rekordhohe Sterben – alle achtzehn Minuten erlischt ein Leben – findet leise statt. Vom Leid der Angehörigen ist wenig zu hören, gesellschaftliche Anteilnahme ist nur selten ein Thema. Wo die einen auf die Piste drängen, können andere nicht einmal Abschied nehmen. Wie hat sich die Schweiz bloss in Dürrenmatts Zug verwandeln können?

Die Gründe werden sich erst im Rückblick klar benennen lassen. Spürbar war aber in den letzten Monaten auf allen Föderalismusstufen eine gewisse Überheblichkeit. Die Gewissheit, dass die Katastrophen, die dieses reiche Land in den letzten Jahrzehnten noch immer verschont haben, auch diesmal an den Landesgrenzen haltmachen. Dass man es besser kann als andere Staaten, zusammengefasst in der Formel «Wir können Corona». Vor allem aber stand hinter allen beschlossenen (und versäumten) Massnahmen bloss eine Devise: Das Geschäft muss weiterlaufen. Glück haben jene im Homeoffice; besonders exponiert bleiben Verkäuferinnen und Paketzusteller, Fabrikangestellte und das Pflegepersonal.

Die bürgerliche Mehrheit stellte Profite vor Menschenleben und versuchte dies nicht einmal zu verhehlen. Aus Rücksicht auf Lobbygruppen und Wirtschaftsverbände schlug sie Warnungen der Wissenschaft in den Wind. Rückte selbst dann nicht von ihrem Spardogma ab, als dessen tödliche Folgen offensichtlich waren. Es ist noch nicht lange her, dass der Finanzminister eines der reichsten Länder der Welt behauptete, man könne sich keinen zweiten Lockdown leisten.

Pandemiebekämpfung ist immer auch Interessenpolitik. Beim Streit um föderale Zuständigkeiten ging es letztlich bloss um eines: Wer bezahlt am Ende die Rechnung für die geschlossenen Betriebe? Und in der Zwischenzeit starben Menschen.

Überheblichkeit und Egoismus, so viel ist schon jetzt klar, haben in der Schweiz zu einem verengten Blick geführt. Je schneller sie diese Eigenschaften ablegt, desto rascher führt der Weg wieder hinaus aus dem Tunnel.