NGOs unter Druck: Wer vom Reichtum nicht reden will …
Schweizer NGOs sind ins politische Sperrfeuer geraten, weil sie die Konzernverantwortungsinitiative unterstützten. Nun setzt Aussenminister Cassis zur Schikane an. Das ist ein Skandal, zeigt aber auch, dass die NGOs ihre Arbeit richtig gemacht haben.
Vom Abstimmungskampf war man sich ja bereits einiges gewohnt. Aber die Dreistigkeit, mit der die GegnerInnen der Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) das Abstimmungsresultat vom 29. November delegitimieren, ist dennoch verblüffend. Dutzende Schweizer NGOs stehen unter Beschuss, weil sie sich für die Kovi engagiert hatten. Schon zuvor waren sie zur unterschätzten Übermacht stilisiert worden: Als «mächtige Riesen» trieben sie mittlerweile die «‹umstrittenen Zwerge› aus der Wirtschaft» vor sich her, hiess es Mitte November etwa in der «SonntagsZeitung». Dass mehrere dieser NGOs in der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) tätig sind und dafür öffentliche Beiträge erhalten, liess sich vorzüglich skandalisieren. Der gezielt geschürte Generalverdacht: Hier werden Steuergelder für eine Kampagne verwendet, um der Schweizer Wirtschaft zu schaden.
Was dann folgte, kam einer Züchtigung gleich. Während SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi ein generelles Politikverbot für staatlich unterstützte NGOs in den Raum stellte, forderte FDP-Ständerat Philippe Bauer eine entsprechende Überprüfung der NGO-Geldflüsse durch die zuständige Geschäftsprüfungskommission. Und CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter forderte per Postulat einen Bericht des Bundesrats zu allen mit Bundesgeldern finanzierten Aktivitäten der Entwicklungsorganisationen. Dies sind nur einige einer Vielzahl vergleichbarer Vorstösse aus dem bürgerlichen Lager, die zuletzt im Parlament eingingen.
Orbanisierte Schweiz?
Nun stellte sich diese Woche heraus, dass auch FDP-Aussenminister Ignazio Cassis, dem die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) unterstellt ist, höchstpersönlich aktiv wurde. Gemäss «Tages-Anzeiger» nutzte Cassis die Gunst der Stunde: Weil die Verträge für die Programmbeiträge der nächsten Jahre noch nicht unterschrieben waren, setzte er die NGOs Anfang Dezember in einem Brief unter Druck. War es bislang einzig untersagt, Deza-Gelder für politische Kampagnen zu verwenden, sollen sie demnach künftig auch nicht mehr für «Informations- und Bildungsarbeit im Inland» eingesetzt werden dürfen. Dabei steht in den Deza-Richtlinien für die Zusammenarbeit mit NGOs eigentlich, dass es «eine wichtige Aufgabe» der Organisationen sei, die Öffentlichkeit «über globale Herausforderungen aufzuklären».
Die Trennlinie zwischen erlaubter «Sensibilisierung» und unerlaubter politischer Arbeit war bereits im Kovi-Abstimmungskampf zum Thema geworden: Die NGO Solidar Suisse musste einen Betrag von 24 000 Franken an die Deza zurückzahlen. Sie hatte in einer Broschüre über Kinderarbeit auf den Baumwollplantagen von zwei Schweizer Unternehmen in Burkina Faso, die teils mit Deza-Geldern finanziert worden war, auf die Kovi hingewiesen.
Es sei ein redaktioneller Fehler passiert, räumte Solidar Suisse ein, und zahlte den Anteil des Bundes sofort zurück. Doch der Schaden war angerichtet – und nun wird an der NGO offensichtlich ein Exempel statuiert: Obwohl bei einer ersten Überprüfung ihrer Kampagnendokumente keine weiteren Unstimmigkeiten festgestellt wurden und eine Erneuerung der Programmbeiträge bereits zugesichert worden war, muss Solidar Suisse nun einen zweiten Audit durchlaufen. «Wir wollen eine rasche Klärung, zumal unsere Projekte seit Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zur Stärkung von benachteiligten Menschen im globalen Süden leisten», sagt Geschäftsleiter Felix Gnehm.
Indem Cassis die erwähnte Trennlinie verschiebt, lässt er die Handlungsspielräume der NGOs schrumpfen. Als «Orbanisierung der Schweizer Politik» bezeichnete SP-Kopräsident Cédric Wermuth die aktuelle Dynamik, in Anlehnung an Ungarns Premierminister, der missliebige zivilgesellschaftliche Organisationen seit Jahren erfolgreich kriminalisiert. Tatsächlich kommen die Attacken in der Schweiz zu einem Zeitpunkt, zu dem sich ganz grundsätzlich die Frage stellt, was Entwicklungszusammenarbeit eigentlich ist – und in wessen Interesse sie betrieben werden soll.
Ginge es nach Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter, sind dies offensichtlich vor allem Schweizer Eigeninteressen. Die CVP-Politikerin, die unter anderem im Vorstand von Economiesuisse sitzt, fungiert im Parlament als entwicklungspolitische Taktgeberin. Vor zwei Jahren reichte sie eine Motion ein, in der sie zum einen eine verstärkte Zusammenarbeit mit Schweizer Unternehmen forderte sowie zum anderen «eine Verknüpfung von Entwicklungszusammenarbeit mit Migrationsfragen». Beide Punkte wurden prominent aufgegriffen in der neuen entwicklungspolitischen Strategie des Bundes (vgl. «Der Spielraum ist gross» ). In ihrem aktuellen Postulat kritisiert Schneider-Schneiter nun, dass sich NGOs nicht kommentarlos in den Dienst dieser Ausrichtung stellen: «Entwicklungshilfeorganisationen betätigen sich immer mehr mit entwicklungspolitischen Forderungen im Inland, statt sich mit konkreter Entwicklungshilfe im Ausland zu beschäftigen», heisst es da.
Diese Gegenüberstellung ist auch deshalb frappant, weil sie suggeriert, NGOs betätigten sich nur dann politisch, wenn sie sich in der Schweiz bemerkbar machten. In den Zielländern hingegen leisten NGOs «Hilfe» – als würden sie sich dort in einem apolitischen Raum bewegen. Dabei hat die internationale EZA in den letzten Jahrzehnten einige Reflexionsprozesse durchlaufen. Deza-Vizedirektor Thomas Gass würde heute nie behaupten, dass sich Entwicklungsarbeit fein säuberlich von politischen Zusammenhängen trennen lasse. Wenn die Deza in einem Land mit AkteurInnen der Zivilgesellschaft oder der Privatwirtschaft zusammenarbeite oder wenn sie sich für eine gute Regierungsführung einsetze, sei das sehr politisch. «Ich würde es so sagen: Entwicklungspolitik ist Politik», sagt Gass, «aber es ist keine linke oder rechte Politik.»
Eine NGO, die wohl ziemlich genau in diesem Selbstverständnis agiert, ist Swisscontact, die Schweizerische Stiftung für technische Entwicklungszusammenarbeit. Gemäss ihrem Jahresbericht erhielt sie 2019 über 60 Millionen Franken für Bundesmandate – kein anderes Hilfswerk erhielt mehr. Dennoch wird die NGO in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. «Wir machen keine Briefaktionen und Plakatkampagnen, deshalb kennt man uns in der Schweiz nicht so gut», sagt Geschäftsleitungsmitglied Philippe Schneuwly. Swisscontact entstammt der Privatwirtschaft und gibt sich nachdrücklich wirtschaftsnah. «Wir unterstützen es, dass die Deza verstärkt mit dem Privatsektor zusammenarbeiten will», sagt Schneuwly. Zu den Grundüberzeugungen von Swisscontact gehöre jene, dass der Privatsektor zentral für eine inklusive wirtschaftliche Entwicklung im Globalen Süden sei. Die Stiftung setze ihr schweizerisches Know-how sehr gezielt ein: «Wir wissen, wie man ein Berufsbildungsmandat implementiert, Unternehmensförderung betreibt oder Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft erreicht.» Politisch hingegen sei Swisscontact neutral. «Wir haben kein Mandat, uns etwa in den Zielländern für Menschenrechte einzusetzen oder in der Schweiz politischen Einfluss zu nehmen.» Entsprechend hat Swisscontact auch keine Kovi-Abstimmungsempfehlung abgegeben.
Von Süd nach Nord
Die meisten anderen Schweizer NGOs haben heute das Ziel, in den Ländern des Globalen Südens demokratische und zivilgesellschaftliche Strukturen zu stärken, was oft Regierungs- und Konzerninteressen zuwiderläuft. Und sie wissen, dass Armut und Reichtum auf der Welt nicht unabhängig voneinander funktionieren. Seit im Rahmen der internationalen EZA Armutsbekämpfung betrieben wird, hat sich die globale Ungleichheit nämlich nicht verringert, im Gegenteil. Der britische Ökonom David Woodward hat 2015 vorgerechnet, dass es nach heutiger Systematik 100 Jahre dauern würde, bis extreme Armut auf der Welt beseitigt wäre – und 200 Jahre, wenn eine einigermassen menschenwürdige Armutsgrenze gälte. Allein mit der Zahlung von Entwicklungsgeldern vom Norden in den Süden ist daran nichts zu ändern, solange ein Vielfaches davon auf vielerlei Wegen, etwa in Form von Rohstoffprofiten, Schuldzinsen, Steuer- und Kapitalflucht oder auch Korruption, in die entgegengesetzte Richtung fliesst. Gemäss Berechnung des Wirtschaftsanthropologen Jason Hickel entgeht dem Globalen Süden ein 24-Faches von dem, was er an Entwicklungsgeldern erhält.
Ein Angriff auf die Demokratie
In der Agenda 2030 der Uno, die seit 2016 in Kraft ist, wäre dieser Zusammenhang eigentlich durchaus berücksichtigt. Eines der siebzehn «Ziele für nachhaltige Entwicklung» (SDGs) lautet, dass «Ungleichheit in und zwischen den Ländern» zu verringern sei. Die SDGs waren Resultat einer riesigen Verhandlungsleistung zwischen Regierungen und unzähligen NGOs und Interessengruppen. Der enorm breite Konsens hat die Nebenwirkung, dass sich die SDGs breit interpretieren lassen, wodurch sie sich mitunter widersprechen – und es obliegt den Landesregierungen, unter den Zielen eine Priorisierung vorzunehmen. «Politikkohärenz» lautet das Stichwort im EZA-Jargon. Es weist darauf hin, dass Entwicklungsgelder nichts weiter als einen Ablasshandel darstellen, solange ein Land wie die Schweiz nicht auch ihr Steuersystem, die Wirtschaftspolitik und Konsumstandards umgestaltet. Wer aber sollte das tun? «Als Deza sind wir nicht für die Politikkohärenz von Bundesrat und Parlament zuständig», sagt Deza-Vizedirektor Thomas Gass.
Die Kovi stellte gewissermassen einen Versuch dar, etwas von jener Kohärenz herzustellen, die weder vom Bundesrat noch vom Parlament in absehbarer Zeit ernsthaft zu erwarten ist. Die Initiative war nicht radikal, hätte keine systemische Umwälzung und keine globale Rückverteilung mit sich gebracht – sie sollte lediglich etwas mehr Rechenschaftspflicht und Haftbarkeit an jenen Ort bringen, an dem das global erwirtschaftete Kapital letztlich sitzt. Damit hat die Kovi eine Tür aufgestossen: für Debatten, in denen Armut nicht als Entwicklungsstufe, sondern als politisches Problem verstanden wird, das ohne Reichtum nicht zu erklären ist.
Für die Dutzenden von Hilfsorganisationen, die sich für die Kovi engagiert haben, scheint es heute eine Selbstverständlichkeit zu sein, diesen Zusammenhang herzustellen. «Wer nicht über die Ursachen von Problemen reden will, hat die Arbeit nur zur Hälfte gemacht», sagt etwa Hugo Fasel, der jüngst nach zwölf Jahren als Direktor der Caritas abgetreten ist. «Es geht um Fragen des Kapitalismus und der Ausbeutung», sagt Fasel, «die muss man einfach stellen.»
Die heftigen Reaktionen der GegnerInnen deuten darauf hin, dass diese das Potenzial des zivilgesellschaftlichen Engagements lange unterschätzt hatten. «Als sie es dann begriffen, haben sie den Schalter umgelegt», sagt Nina Burri von der NGO Brot für alle, die sich im Abstimmungskampf unter anderem mit Bundesrätin Karin Keller-Sutter duellierte. Letztere steht sinnbildlich dafür, wie schief das medial kolportierte Bild einer übermächtigen NGO-Lobby tatsächlich ist: Die FDP-Justizministerin nutzte ihre Position für einen gezielten Abstimmungskampf – und das mit nachweislichen Falschaussagen.
«Die aktuellen Reaktionen werte ich als Angriff auf die direkte Demokratie», sagt Nina Burri. «So viele Menschen aus der Zivilgesellschaft haben sich für ein politisches Anliegen engagiert, ein klares Zeichen für eine vitale Demokratie, und jetzt werden sie auf diese Weise attackiert.» Gleichzeitig müsse man es aber wohl auch als Kompliment auffassen, wenn einem eine solche Macht zugesprochen werde.
Das Abstimmungsresultat sei ein «grösseres Erdbeben» gewesen, findet Hugo Fasel, und die Reaktion darauf insofern erwartbar. «Für das klassische Kapital war das ein grosser Schock», sagt Fasel, «und letztlich reagiert dieses immer gleich: Es versucht, so viel Macht zu erhalten, wie es eben kann.»