Trinkwasserinitiative: Vollgas ohne Geld vom Staat

Nr. 13 –

Die Trinkwasserinitiative möchte nur noch Höfe mit Direktzahlungen unterstützen, die sich an strenge ökologische Vorgaben halten. Aber ausgerechnet die Betriebe, die am meisten Pestizide und Importfutter brauchen, sind kaum von Direktzahlungen abhängig. Könnten sie auch ohne weitermachen – intensiver als bisher?

«Ich würde lieber auf Direktzahlungen als auf Pflanzenschutz verzichten»: Der Limpacher Landwirt Urs Bürgi ist von der Trinkwasserinitiative nicht begeistert.

Eigentlich, findet Urs Bürgi, sei er gut unterwegs. Der Bauer aus Limpach im Berner Mittelland braucht viermal weniger vom Herbizid Glyphosat als noch vor vier Jahren. Wenn der Boden nicht zu nass ist, bringt er viel Unkraut mit dem Hackgerät weg. Er hat auch schon elektronisch gesteuerte Geräte getestet, die die jungen Bohnen mit Sensoren erkennen, dort nur ein Drittel der üblichen Menge spritzen und zwischen den Reihen hacken. In den Zuckerrüben will er dieses Jahr gar keine Mittel gegen Insekten und Pilzkrankheiten mehr einsetzen, ebenso im Weizen.

Aber falls im Juni die Trinkwasserinitiative (TWI) angenommen wird, plant Bürgi eine Kehrtwende: Er würde den Versuch, schrittweise ökologischer zu wirtschaften und immer weniger Spritzmittel zu brauchen, abbrechen. Und stattdessen aus dem Ökologischen Leistungsnachweis (ÖLN) aussteigen. Der ÖLN definiert die Grundanforderungen, die LandwirtInnen erfüllen müssen, wenn sie Direktzahlungen vom Staat bekommen wollen. Bei einem Ja zur TWI wird der ÖLN verschärft: Direktzahlungen bekommt nur noch, wer gar keine Pestizide einsetzt. Und das kann sich Bürgi nicht vorstellen: «Ich brauche Pflanzenschutzmittel als Ertrags- und Qualitätsversicherung, vor allem für die Kartoffeln.» In feuchten Jahren steigt das Risiko, dass sie sich mit der Pilzkrankheit Kraut- und Knollenfäule anstecken und verfaulen. Wenn es viel regnet, kann Bürgi auch nicht hacken, weil der Boden zu nass ist. Das Unkraut wird zum Problem.

Darum sagt Bürgi: «Ich würde lieber auf Direktzahlungen als auf Pflanzenschutz verzichten.» Wenn er den ÖLN nicht mehr erfüllen müsste, hätte er mehr Freiheiten: «Ich müsste die Nährstoffbilanz nicht mehr einhalten, könnte also mehr düngen, vor allem mehr Stickstoff. Ich könnte die Ökoflächen und die Ackerrandstreifen wieder unter den Pflug nehmen, müsste weniger Abstand zu Gewässern halten, und die Auswahl der Pflanzenschutzmittel, die ich verwenden darf, wäre grösser.» Freuen würde ihn das gar nicht, sagt Bürgi. Er finde den Weg der letzten Jahre sinnvoll. «Aber ohne Direktzahlungen müsste ich ganz von der Produktion leben. Dafür müsste ich intensivieren.» Heute machen die Direktzahlungen ein Sechstel seines Betriebsertrags aus. Wenn er «Vollgas» produzierte, würde er es wohl schaffen, ohne sie auszukommen.

Grosse regionale Unterschiede

Am 13. Juni kommen gleich zwei Pestizidinitiativen an die Urne. Die Pestizidfrei-Initiative will synthetische Pestizide verbieten. Das soll nicht nur in der Landwirtschaft, sondern für alle gelten und auch Importprodukte betreffen, die mit synthetischen Pestiziden hergestellt wurden (siehe WOZ Nr. 4/2021 ). Die TWI sieht hingegen keine Verbote vor, sondern einen radikalen Umbau des Direktzahlungsregimes (vgl. «Aus dem Initiativtext» im Anschluss an diesen Text). LandwirtInnen können auch nach einem Ja weiterhin Pestizide einsetzen, Importfutter verfüttern oder prophylaktisch Antibiotika brauchen. Sie bekommen dann einfach keine Direktzahlungen mehr.

Wie wichtig sind diese Gelder vom Staat? In den letzten dreissig Jahren wurde die Schweizer Agrarpolitik umgekrempelt: Weg von festen Preisen und fixen Mengen, hin zur Stützung und Steuerung durch Direktzahlungen, die an ökologische Mindestanforderungen – den erwähnten ÖLN – geknüpft sind. In der agrarpolitischen Diskussion gelten die Direktzahlungen seither als das entscheidende Steuerungsinstrument. Gleichzeitig steht an die Adresse der BäuerInnen oft ein Vorwurf im Raum: «Ihr lebt ja sowieso vom Staat.»

So pauschal stimmt das allerdings nicht: Der Anteil der Direktzahlungen am Einkommen variiert enorm. Am grössten ist er – kein Wunder – im Berggebiet, wo der Sommer kurz ist und die steilen Hänge viel Arbeit machen. Für eine Mutterkuhhalterin auf einem Biobetrieb in einem Bündner Hochtal machen die Direktzahlungen über die Hälfte des Ertrags aus. Im Flachland ist das ganz anders. Insbesondere bei konventionellen Gemüse-, Obst und Weinbaubetrieben – die schweizweit am meisten Pestizide einsetzen – beträgt der Direktzahlungsanteil nur wenige Prozent: Diese Branchen leben vom Verkauf ihrer Produkte. Auch bei einem Teil der intensiven Schweine-, Poulet- und Legehennenbetriebe – die grosse Mengen Importfutter brauchen – ist der Direktzahlungsanteil tief.* Gerade jene Betriebe, die die TWI am meisten anprangert, sind also am wenigsten von Direktzahlungen abhängig – und am wenigsten durch sie beeinflussbar.

Zum Beispiel Wyssa Gemüse in Galmiz, im Grossen Moos zwischen Murtensee und Kerzers. Auf 22 Hektaren wachsen hier Salat, Lauch, Stangensellerie, Fenchel, Gurken, Schwarzwurzeln und Pak Choi. Das gibt viel Arbeit: In der Hochsaison sind siebzig Leute auf den Feldern beschäftigt. Fast drei Viertel des Gemüses nehme Lidl ab, sagt Betriebsleiter Thomas Wyssa. Die Direktzahlungen machen nur rund ein Prozent des Betriebsertrags aus – Abhängigkeit sieht anders aus. Wenn die TWI durchkommt, verfolgt Wyssa eine ähnliche Strategie wie Urs Bürgi: Er würde prüfen, aus dem ÖLN auszusteigen, und dann auch auf den ungedüngten Blumenwiesen, die heute fünf Prozent der Fläche ausmachen, wieder Gemüse anbauen. «Wir können nicht zu hundert Prozent auf Pflanzenschutzmittel verzichten.»

Was heisst «pestizidfrei»?

Wie Bürgi und Wyssa argumentieren viele LandwirtInnen. Auch zwei Studien, eine von der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) in Zollikofen, eine von den staatlichen Forschungsanstalten Agroscope, kommen zum Schluss, dass ein relevanter Teil der BetriebsleiterInnen bei einem TWI-Ja einen Ausstieg aus dem ÖLN in Erwägung ziehen würde. Umweltverbände kritisieren die Studien als voreingenommen – die HAFL-Studie wurde vom Bauernverband in Auftrag gegeben und hat vor allem Betriebe ausgewählt, auf die sich die TWI sehr negativ auswirken würde. Der Abstimmungskampf hat längst begonnen. Natürlich dramatisieren die GegnerInnen. Sind die Ausstiegsszenarien leere Drohungen?

Für Bauer Urs Bürgi hängt das vor allem davon ab, wie strikt die Vorlage umgesetzt würde: «Bei einem Ja hoffe ich, dass das Parlament das Ganze noch abschwächt.» Der Bundesrat hält sich in seiner Botschaft zur Vorlage allerdings eng an den Initiativtext. Bei der Definition von «Pestizid» stützt er sich auf das Chemikaliengesetz und schreibt: «Diese Definition umfasst beispielsweise auch Pflanzenschutzmittel, die in der biologischen Landwirtschaft eingesetzt werden, und Reinigungsmittel, die beispielsweise in der Milchproduktion Verwendung finden.» Eine sehr strikte Auslegung der TWI, die den GegnerInnen im Abstimmungskampf gelegen kommt. Initiantin Franziska Herren betont hingegen: «Pestizidfrei heisst für uns ohne chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel. Biomittel sind nicht betroffen.» Anders als in der Pestizidfrei-Initiative steht im TWI-Initiativtext das Wort «synthetisch» aber nicht, was in der Bioszene zu Verunsicherung und Kontroversen führt. Viele BiolandwirtInnen befürworten die Pestizidfrei-Initiative, aber lehnen die TWI ab; auch der Vorstand des Branchenverbands Bio Suisse plädiert für einmal Ja und einmal Nein. Die Parolenfassung steht noch diesen Monat an.

Was sagt die Initiantin zu den vielen LandwirtInnen, die sich einen Ausstieg aus dem ÖLN überlegen? Sie habe diesbezüglich keine Bedenken, betont Franziska Herren am Telefon. Nur wenige würden aussteigen, denn bei einem Ja bekämen ÖLN-Betriebe neben den Direktzahlungen auch Beratung, Forschung und Investitionshilfen zur Unterstützung, «und der Markt wird sich automatisch in Richtung Ökologie bewegen». Die Umlenkung der Subventionen in eine pestizidfreie Produktion werde dazu führen, dass ökologische Produkte für alle erschwinglich würden. «Denn würden die Folgekosten der heutigen intensiven Lebensmittelproduktion auf die Preise draufgeschlagen, wären ökologisch produzierte Lebensmittel nicht teurer als solche, deren Produktion die Umwelt zerstört und die Gesundheit gefährdet.» Von Preiserhöhungen wegen ökologischer Folgekosten steht allerdings nichts im Initiativtext. Und anders als bei der Pestizidfrei-Initiative kommen in der TWI auch die Importe nicht vor – es entstünde also eine grosse Diskrepanz zwischen den Standards im In- und im Ausland.

Eine Hürde gibt es noch für den ÖLN-Ausstieg: Das Label Suisse Garantie verlangt den ÖLN, ebenso der Produktionsstandard Swiss GAP, den Migros und Coop bei Früchten, Gemüsen und Kartoffeln verlangen. Das muss allerdings nicht so bleiben: Der ÖLN sei heute wichtig, um zu zeigen, dass sich Suisse-Garantie-Produkte von den meisten Importprodukten abhöben, schreibt Urs Schneider auf Anfrage. Er ist Präsident des Vereins Agro-Marketing Suisse, der die Garantiemarke vergibt. «Auch in Zukunft wird es ökologische Kriterien für Suisse Garantie brauchen. Das kann der ÖLN sein, aber allenfalls auch andere Kriterien», schreibt Schneider, der auch stellvertretender Direktor des Bauernverbands ist.

«Der Druck ist riesig»

Die Unsicherheit, wie die Initiative umgesetzt würde, macht eine Beurteilung schwierig. Im schlimmsten Fall könnte sie zu einer Spaltung der Branche führen: Die einen Betriebe setzen die ökologisch vorbildlichen Standards der TWI um, die anderen machen das Gegenteil. Sie können zwar auch nicht einfach wirtschaften, wie sie wollen – sie müssen sich an Grundlagen wie das Tierschutz- und das Gewässerschutzgesetz halten –, aber regional könnten die Pestizid- und Düngermengen sogar steigen, und auch Wildpflanzen und -tieren wäre nicht geholfen, weil die Betriebe ohne ÖLN keine Biodiversitätsförderflächen wie zum Beispiel Hecken oder ungedüngte Wiesen mehr anlegen müssen.

Das Dilemma bleibt: Soll man die TWI ernst nehmen – also auch mögliche negative Folgen bedenken? Oder sie einfach als Druckmittel für die nötige Ökologisierung sehen, im Vertrauen, dass sie ohnehin nicht gemäss dem Text umgesetzt wird? «Die Initiative hat ihr Ziel schon fast erreicht», sagt Bauer Urs Bürgi. «Der Druck auf unsere Branche ist riesig.»

* Korrigendum vom 9. April 2021: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion ist dieser Satz nicht präzise genug. Er wurde hier mit der Einschub «bei einem Teil» ergänzt, denn die Aussage stimmt sonst nicht für jene Hühner- und SchweinehalterInnen, die sich an den Tierwohlprogrammen «Besonders tierfreundliche Stallhaltungssysteme» (BTS) und/oder «Regelmässiger Auslauf im Freien» (RAUS) beteiligen. Sie sind ebenfalls von Importfutter abhängig, bei ihnen ist der Anteil der Direktzahlungen am Betriebsertrag aber höher als bei jenen, die nur die minimalen gesetzlichen Standards einhalten.

Aus dem Initiativtext

Bei einem Ja zur Trinkwasserinitiative soll es nur noch Direktzahlungen für Betriebe geben, die folgende Anforderungen erfüllen: «die Erhaltung der Biodiversität, eine pestizidfreie Produktion und einen Tierbestand, der mit dem auf dem Betrieb produzierten Futter ernährt werden kann». Ausserdem schliesst der Bund «Landwirtschaftsbetriebe von Direktzahlungen aus, die Antibiotika in der Tierhaltung prophylaktisch einsetzen oder deren Produktionssystem einen regelmässigen Einsatz von Antibiotika nötig macht». Auch die Forschung soll auf diese Ziele ausgerichtet werden. Die Übergangsfrist dauert acht Jahre.

Das Initiativkomitee definiert «pestizidfrei» als Biostandard und interpretiert in einem Werbefilm zur Abstimmung auch die Futterrichtlinie neu: Dort ist nun von Betrieben die Rede, «die nur so viele Tiere halten, wie sie mit Schweizer Futter ernähren können». Die InitiantInnen legen den eigenen Initiativtext also grosszügig aus.