Coronalockerungen: Anhaltende Sonderfallneurose
Seit Montag sind Restaurantterrassen, Fitnessstudios, Kinos und Theater wieder geöffnet. Auch singen im Chor ist wieder erlaubt, und Veranstaltungen dürfen unter Auflagen wieder stattfinden. Man kann sich einmal mehr nur die Augen reiben: Während viele Nachbarländer wegen erneut steigender Coronazahlen wieder strenge Lockdowns verhängen, geht die Schweiz erneut einen Sonderweg. Mit besseren Fallzahlen kann sie dabei nicht argumentieren: Sie haben sich bei gut 2000 täglich eingependelt. Vielmehr bedient sich Gesundheitsminister Alain Berset eines altbekannten Arguments: Dieser Gesellschaft seien die Lockerungen zuzutrauen.
Freilich: Es ist der richtige Zeitpunkt, um Perspektiven zu schaffen. Während die Natur aufblüht, ist die Bevölkerung coronamüde. Und mit dem Impfen verändert sich die Situation. Mittlerweile ist rund die Hälfte der über 65-Jährigen und anderer Risikogruppen immunisiert. Derzeit befinden wir uns quasi in einem Wettrennen – auf der einen Seite die noch langsam fortschreitende Immunisierung, auf der anderen neue Coronavarianten, die sich rasant ausbreiten. Das Öffnen von Terrassen oder Kinos ist in dieser Situation vielleicht noch zu verantworten; das Chorsingen sowie das Trainieren in Fitnesscentern wieder zu erlauben, ist jedoch mehr als fragwürdig. Dasselbe gilt für Veranstaltungen in Innenräumen.
Dass man es hierzulande besonders gut könne mit der Eigenverantwortung, meinte der Bundesrat schon einmal: als er im Sommer auf Druck der Wirtschaftsverbände turbolockerte und schliesslich völlig unvorbereitet in die zweite Welle rasselte. In der reichen Schweiz sind seit Beginn der Coronapandemie knapp 10 000 Menschen am Virus gestorben, im zehnmal grösseren Deutschland sind es 80 000 Todesfälle.* Die anhaltende Sonderfallneurose setzt nun erneut aufs Spiel, was über den Winter erreicht wurde. Und sie wird bald weitere schwere Fälle und Langzeitleiden zu verantworten haben. Im Sinne des Grossteils der Bevölkerung ist das sicher nicht.
* Korrigendum vom 22. April 2021: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion dieses Artikels stand fälschlicherweise, seit Beginn der Pandemie habe es in Deutschland 40 000 Corona-Todesfälle gegeben. Richtig ist, dass es in Deutschland seit Beginn der Pandemie 80 000 Corona-Todesfälle gegeben hat. Wir bitten für diesen Fehler um Entschuldigung.