Wohnen: «Keine Schlappe für Rot-Rot-Grün, sondern für alle»

Nr. 16 –

Grosses Entsetzen in Berlin. Das deutsche Bundesverfassungsgericht kassiert den Mietendeckel. Nun stehen hohe Nachzahlungen an – aber die MieterInnen radikalisieren sich.

«Zu früh gefreut»: So beginnt ein E-Mail, das mehrere MieterInnen im Berliner Stadtteil Kreuzberg vergangene Woche von ihrer Hausverwaltung bekommen haben. Und das nur wenige Stunden nachdem das deutsche Verfassungsgericht in Karlsruhe den sogenannten Mietendeckel gekippt hatte. Das Gesetz, das ab November 2020 die Mieten in Berlin auf das Niveau von 2019 drückte, sei nicht verfassungskonform, nur der Bund habe das Recht, das Mietwesen zu regulieren, nicht aber die Bundesländer. Die Immobilienbranche, konservative Medien und liberale PolitikerInnen giessen Häme über Berlin aus. Das Gericht habe die Regierung aus SPD, Grünen und Linkspartei «komplett abgewatscht», fand der Präsident des Hauseigentümerverbands, es sei eine «schallende Ohrfeige mit Ansage» die Berliner AfD-Vorsitzende. Dass nun MieterInnen teilweise hohe Rückzahlungen leisten müssen, sei die Schuld des Senats, der ein «ideologisches Experiment» mit den MieterInnen durchgeführt habe. Denn jetzt fordern VermieterInnen rückwirkend die höhere Miete ein. Im zitierten E-Mail tut die Verwaltung dies schon im dritten Satz. Wer nicht bis zum 23. April bezahle, dem drohe die Kündigung. Und: «Zusätzlich schlagen wir Ihnen vor, das Mietverhältnis so schnell wie möglich zu beenden. Solche Mieter brauchen wir nicht.»

1,5 Millionen betroffene Haushalte

«Das ist eine bodenlose Unverschämtheit», sagt Hannah. Sie ist eine der EmpfängerInnen des Mails, möchte ihren richtigen Namen mitten im Konflikt mit der Hausverwaltung aber lieber nicht in der Zeitung lesen. Der Ton habe sie «krass geärgert». Die Miete ihrer vierzig Quadratmeter grossen Wohnung war durch den Mietendeckel um 150 Euro gesenkt worden, nun muss sie 700 Euro nachzahlen. Sie hat das Geld zwar zurückgelegt, aber der Ton zeige, wie MieterInnen in Berlin inzwischen behandelt würden. «Dieses Machtgefälle ekelt mich an.» Ein Mieter aus ihrem Haus reicht nun Anzeige wegen Beleidigung ein. Eine gute Seite habe das E-Mail: Im Haus haben die NachbarInnen Kontakt miteinander aufgenommen, sie tauschen sich über Massnahmen gegen Baulärm und andere Probleme mit der Verwaltung aus. «Eine Gemeinschaft hat sich aufgetan», sagt Hannah.

In Berlin sind 1,5 Millionen Haushalte vom Ende des Mietendeckels betroffen. Wenn man sich in der Stadt umhört, relativieren viele, bei den meisten steigt die Miete «nur» um rund zehn Prozent. Doch viele wollen nicht offiziell mit den Medien sprechen, zu angespannt ist das Verhältnis zwischen BesitzerInnen und MieterInnen. Alle Befragten kennen Extrembeispiele von Bekannten, deren Mieten nun um Hunderte Euro steigen. Viele haben die Mietersparnis zurückgelegt – zumindest diejenigen, die finanziell dazu in der Lage sind. Eine Umfrage der Berliner Sparkasse hatte im Februar gezeigt, dass 41 Prozent der Befragten Rücklagen bilden konnten, 47 Prozent hatten kein Geld beiseitegelegt. Das ist bei der wirtschaftlichen Lage der meisten Menschen in Berlin auch schwierig. Darum hat die Berliner Regierung einen Härtefallfonds eingerichtet.

Medianlohn: 1500 Euro

Fast die Hälfte aller EinwohnerInnen der Stadt erhält staatliche Unterstützung in irgendeiner Form. Das monatliche Mediangehalt beträgt pro Kopf etwas über 1500 Euro netto. Das heisst, dass die Hälfte der Erwachsenen in Berlin von weniger als 1500 Euro pro Monat leben. Da schmerzt eine Mieterhöhung von 100 Euro. Vor allem jetzt, da in der Pandemie viele Menschen ihre Stelle verloren haben oder von Kurzarbeit leben müssen.

Dass das Gericht ein Gesetz, das vielen Menschen das Leben erleichtert hat, mitten in dieser Situation gekippt hat, sei besonders stossend, findet Lisa Vollmer. Die Aktivistin ist Sprecherin der Initiative «Stadt von Unten». «Ich bin total schockiert, empört, entsetzt», sagt Vollmer am Telefon. «Das ist keine Schlappe für Rot-Rot-Grün, die haben wenigstens was versucht», findet sie, «das ist eine Schlappe für alle Berlinerinnen.» Für einmal hätten die Menschen einen Sieg errungen, gegen den Ausverkauf der Stadt und massiv steigende Lebenshaltungskosten – nun sei der ihnen wieder genommen worden. «Das kann nur Klassenjustiz sein», meint Vollmer. Viele RichterInnen seien auch VermieterInnen und offensichtlich sei das ein politisches Urteil, denn der Präsident des Gerichts sei ja auch ein ehemaliger Politiker der konservativen CDU.

Mieterin Hannah ist auch von der Berliner Regierung enttäuscht: «Ich finde es krass, dass das so von der Politik beworben wurde und wir das jetzt ausbaden müssen.» Diese Kritik am Berliner Senat wiederum lässt Benjamin Hersch nicht gelten: «Ich höre fast keine Stimmen, die sagen: ‹Ey, ihr habts versaut.›» Der Anwalt für Mietrecht engagiert sich beim Verband der republikanischen AnwältInnen (RAV). Vielmehr ist er überzeugt: «Die Stadt hat sich handlungsfähig gezeigt.» Der Gerichtsbeschluss hat ihn überrascht, schliesslich habe der Senat Gutachten erstellen lassen, die zu einem anderen Urteil gekommen seien. «Seltsam ist auch, dass das Gericht nur die formale Zuständigkeit geprüft hat», findet Hersch. Es hätte ohne Weiteres auch den Inhalt prüfen können, um zu verhindern, dass ein allfälliger deutschlandweiter Mietendeckel auch nochmals vor Gericht gezerrt würde. Besonders enttäuschend findet Hersch, dass das Gericht keine Übergangsregelung getroffen hat. «Das Gericht hätte regeln können, dass die Rückzahlung nicht sofort fällig wird – oder dass man überhaupt nichts zurückzahlen muss.» Die städtischen Immobilienverwaltungen und einige Private fordern auch so keine Rückzahlung. Allerdings hat Hersch bereits zwei KlientInnen, die sich von Räumungsklagen bedroht sehen.

Kompliziert wird die juristische Lage durch ein anderes Instrument im Mietrecht, das vor einigen Jahren bundesweit eingeführt wurde: die sogenannte Mietenbremse. Weil es diese schon gab, dürfe Berlin nicht noch ein eigenes Gesetz erlassen. Das Problem dabei: «Die Mietpreisbremse ist schwierig durchzusetzen, man muss häufig klagen, selber tätig werden», sagt Hersch. Und das täten viele nicht – weil sie davon nichts wüssten oder Angst vor der Verwaltung hätten. «Bei mir in der Anwaltspraxis habe ich gesehen, dass erst der Mietendeckel wirklich was gebracht hat.»

Aufwind für Enteignungen

«Der Gerichtsbeschluss zeigt, dass es ein anderes Mittel geben muss. Wir können uns nicht nur auf den Staat verlassen», sagt Anwalt Hersch. Lisa Vollmer von «Stadt von Unten» fragt: «Der Mietendeckel war auf fünf Jahre ausgelegt, was wäre danach gekommen?» Heute ist die Antwort klar: In der ganzen Stadt sammeln AktivistInnen Unterschriften für die Volksinitiative «Deutsche Wohnen & Co enteignen». Sie verlangt, dass die Wohnungen grosser Immobilienkonzerne verstaatlicht werden. «Das ist der perfekte Zeitpunkt», findet Vollmer. «Jetzt sind alle Mieterinnen und Mieter plötzlich total politisiert.»

Das zeigte sich schon am Abend nach der Urteilsverkündung: In Kreuzberg versammelten sich fast 20 000 Menschen zu einer spontanen Demonstration gegen zu hohe Mieten. Mieterin Hannah unterstützt die Enteignungsbestrebungen, denn: «Man hätte die vielen staatlichen Wohnungen, die es früher in Berlin gab, gar nie privatisieren dürfen. Das hat uns erst in die Bredouille gebracht.»