Klimakatastrophe: «Ich bin bereit, für meine Anliegen zu sterben»

Nr. 47 –

Seit mehr als drei Wochen befindet sich Guillermo Fernandez auf dem Bundesplatz im Hungerstreik – um die Politik zu einer entschlosseneren Klimapolitik zu bewegen. Die radikale Protestform hat eine lange Tradition.

Nach dem Vorbild der britischen Suffragetten: Guillermo Fernandez am Montag, dem 22. Tag seines ­Hungerstreiks auf dem Bundesplatz.

Für einen, der seit achtzehn Tagen nichts gegessen hat, ist Guillermo Fernandez äusserst gut gelaunt. Seit zwei Stunden befindet er sich bei zwei Grad Celsius auf dem Bundesplatz, dick eingepackt in Winterjacke, Handschuhe und Mütze. Gerade verabschiedet er sich von zwei Herren, die gekommen sind, um sich für seinen Einsatz zu bedanken. «Das war ein Nobelpreisträger», flüstert Fernandez begeistert, als einer der beiden, der Biophysiker Jacques Dubochet, sich abwendet.

Seit dem 1. November sitzt der «Papa im Hungerstreik», wie er sich nennt, Tag für Tag von 9 bis 12 und von 14 bis 17 Uhr vor dem Bundeshaus. Seine wichtigsten Forderungen: die Ausrufung eines landesweiten Klimanotstands, eine klimaneutrale Schweiz bis 2030 und der globale Einsatz der Eidgenossenschaft für Klima und soziale Gerechtigkeit. Er wendet sich damit an SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die Räte und Bevölkerung über das volle Ausmass der Klimakatastrophe aufklären und auf die Umsetzung seiner Forderungen hinwirken soll. Bis diese erfüllt sind, will Fernandez nichts mehr essen – auch, wenn das seinen Tod bedeuten könnte. «Natürlich möchte ich leben», sagt er vergangenen Freitag, am 19. Tag seines Hungerstreiks. «Aber ich bin bereit, für meine Anliegen zu sterben.»

Vitamine und Ingwertee

Der 47-jährige Fribourger ist nicht der Erste, der in diesem Jahr sein Leben aufs Spiel setzt, um gegen die Klimakrise zu kämpfen: Ende Oktober traten vier junge Menschen vor dem Weissen Haus in den Hungerstreik. Nach zwei Wochen beendeten sie ihn, nachdem Präsident Joe Biden versprochen hatte, die CO2-Emissionen der USA bis 2030 zu halbieren. In Deutschland verweigerten ab Ende August Klimaaktivist:innen in einem Camp nahe dem Bundestag wochenlang die Nahrungsaufnahme. Zum Schluss traten zwei von ihnen sogar in einen «trockenen» Hungerstreik, nahmen also auch keine Flüssigkeit mehr zu sich. Ende September beendeten sie – körperlich stark geschwächt – ihren Protest, worauf sich SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz zu einem Gespräch mit ihnen bereit erklärte.

Ein «trockener» Hungerstreik kommt für Fernandez vorerst nicht infrage. Er nimmt jeden Tag ein Vitaminpräparat zu sich, um Hirnschäden zu vermeiden, und trinkt Tee mit Zitrone, Salz und Ingwer. Mit den Aktivist:innen aus Deutschland habe er Kontakt gehabt, seine Vorbilder seien aber insbesondere die britischen Suffragetten. Die Aktivistinnen, die sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts unter anderem für das Frauenwahlrecht einsetzten, zählten zu den Ersten, die den Hungerstreik als politisches Druckmittel etablierten.

Im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelte sich der Hungerstreik unter politischen Gefangenen zu einer der wenigen möglichen und oft medienwirksamen Protestformen. Bekannte Beispiele sind etwa die Streiks inhaftierter Mitglieder der Irish Republican Army Anfang der achtziger Jahre, die für zehn von ihnen tödlich endeten, oder jene von Angehörigen der Roten Armee Fraktion. Auch zahlreiche Kurd:innen inner- und ausserhalb von Gefängnismauern hungerten immer wieder, um auf ihre politischen Anliegen aufmerksam zu machen. Zeitgleich mit der Etablierung des Hungerstreiks als politisches Druckmittel entbrannte auch eine Kontroverse darüber, wie der Staat darauf reagieren solle. Im Zentrum steht dabei die Massnahme der Zwangsernährung, unter der bereits die Suffragetten litten – damals noch unter folterähnlichen Umständen, bei denen die Nahrung den fixierten Personen über Naseneinläufe zugeführt wurde.

Guillermo Fernandez kennt die historischen Beispiele. In seinem früheren Leben war er IT-Projektleiter und, wie er selbst sagt, ein völlig apolitischer Mensch. «Ich habe gearbeitet, meine Steuern bezahlt und mich um meine Kinder gekümmert.» Apolitisch, nicht in Gefangenschaft und Vater von drei Kindern – wieso also plötzlich eine derart extreme Protestform?

Grund war ein Moment, der für Fernandez alles veränderte: «Das war am 9. August dieses Jahres, als meine jüngste Tochter ihren 13. Geburtstag feierte.» Am selben Tag wurde der neuste Bericht des Weltklimarats veröffentlicht, der Fernandez «traumatisierte», wie er sagt. Als er sich die Prognosen angesehen habe, habe er verstanden, dass seine Tochter, wenn sie so alt sein würde wie er jetzt, in einer Welt voller Hunger und Krieg leben müsste. Er habe sich überlegt, was er als Individuum dagegen tun könne, um einen grösstmöglichen Effekt zu erzielen. «Der Hungerstreik ist eine Protestform, bei der man sogar Erfolg haben kann, wenn sie schiefgeht», meint er – und verweist auf verstorbene Hungerstreikende, deren Forderungen im Nachhinein erfüllt wurden. Es fällt schwer, zu glauben, dass der Mann, der immer wieder laut lacht und Witze reisst, tatsächlich bereit sein könnte, zu sterben.

Jeder Körper ist anders

Seine gute Laune schneidet sich mit dem Pathos, das zum Vorschein tritt, wenn er über die Grausamkeit des Hungerns spricht. Dann sagt er Dinge wie: «Wenn der Tod gut orchestriert ist, ist er nicht sinnlos.» Und hat es etwas mit seinem Glauben zu tun, dass der bekennende Katholik Fernandez sich in der Rolle des Märtyrers zu gefallen scheint? Er sieht es anders: «Es ist ein weisses Privileg, nach dem Protestieren am Abend nach Hause zu gehen und sich vor den Fernseher zu setzen.» Auf der ganzen Welt riskierten Aktivist:innen täglich ihr Leben für den Klimaschutz. Für ihn sei es ein Zeichen des Respekts diesen Menschen gegenüber, dass auch er bereit sei, unter Einsatz seines Lebens zu kämpfen.

Dass ein Hungerstreik zum Tod führen kann, macht seine Stärke aus, da er grösstmögliche Ernsthaftigkeit demonstriert. Gleichzeitig ist aber genau diese Determiniertheit der Grund, weshalb die Protestform in Teilen der Öffentlichkeit einen schlechten Ruf geniesst. Undemokratisch sei das Hungern, gar Erpressung. Fernandez kann die Kritik verstehen, findet aber auch: «Druck und Erpressung sind ganz normal in unserer Welt.» Etwa auf der Arbeit, wo einem die Kündigung drohe, wenn man die Befehle seiner Vorgesetzten nicht ausführe. «Du gehorchst oder du verhungerst, so lautet das Mantra unseres Systems.»

Dieses Mantra will Fernandez mit seinem Hungerstreik umkehren. Wie lange er noch in der Kälte auf dem Bundesplatz sitzen mag, wird sich zeigen: Jeder Körper ist anders, und wie lange man einen Hungerstreik überlebt, hängt von vielen Faktoren ab. Während einige Hungerstreikende nach 60 Tagen starben, lebten andere auch nach 200 Tagen ohne Nahrung weiter. Simonetta Sommaruga hat den Streikenden bereits besucht – doch davon, auf seine Forderungen einzugehen, war dabei keine Rede. Fernandez sagt, er habe sich extra noch ein kleines Fettpolster zugelegt, bevor er den Streik begonnen habe.