Neue Studie: Gestohlene Kindheitsjahre
Rund 700 Kinder leben im Nothilferegime unter prekären Bedingungen. Die Schweiz verstösst damit nicht nur gegen die Kinderrechtskonvention – sondern auch gegen die eigene Verfassung.

Wer die Schweiz verstehen will, muss auch ihr Nothilferegime kennen. Das System also, das den Aufenthalt derjenigen Personen regelt, die rechtskräftig des Landes verwiesen worden sind, aber (noch) nicht ausgeschafft werden können, etwa weil kein Rückschaffungsabkommen mit den betreffenden Ländern besteht. Rund 4000 Personen beziehen derzeit Nothilfe. Etwa ein Fünftel von ihnen sind Kinder und Jugendliche.
Nun steht dieses Regime dank einer neuen Studie wieder einmal im Fokus der Öffentlichkeit. In Auftrag gegeben hat sie die Eidgenössische Migrationskommission (EKM) beim Marie-Meierhofer-Institut für das Kind (MMI). Die Forscher:innen haben erstmals systematisch die Situation von Minderjährigen in der Nothilfe untersucht. Darauf aufbauend, haben Rechtswissenschaftler:innen der Universität Neuenburg eine rechtliche Würdigung vorgenommen. Mit dem eindeutigen Ergebnis: Die Situation ist weder mit der Kinderrechtskonvention noch mit der Bundesverfassung kompatibel.
Keine Teilhabe
Zwischen den Kantonen, die für die Ausrichtung der Nothilfe verantwortlich sind, bestehen erhebliche Unterschiede. Die schweizweite Erhebung durch das MMI belegt aber, was Aktivist:innen schon seit Jahren kritisieren: Mehr als die Hälfte der Minderjährigen leben in Kollektivunterkünften, üblicherweise teilen sie sich dort ein Zimmer mit dem Rest ihrer Familie. Sie haben oftmals kein Taschengeld, keinen Rückzugsort, kaum Spielmöglichkeiten – und keine Perspektive. Zwar gilt die Schulpflicht auch für Kinder in der Nothilfe, sie werden aber oftmals nicht in Regelklassen unterrichtet, sondern in Sonderklassen innerhalb der Unterkunft. Diese sind gemäss Studie «oft altersdurchmischt (von fünf bis sechzehn Jahren)»; mehrere Expert:innen äussern demnach grosse Bedenken bezüglich der Qualität der Beschulung.
Die soziale Isolation der Minderjährigen im Nothilferegime ist drastisch und betrifft alle Altersgruppen. Besonders gefährdet sind Teenager und Kleinkinder. Erstere können nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit üblicherweise keiner Beschäftigung nachgehen. In der Nothilfe gilt ein Arbeitsverbot. Letztere sind vor Eintritt ins Schulalter völlig unterstimuliert. Viele Kinder seien «psychisch sehr belastet und zeigten Verhaltensauffälligkeiten sowie Schlaf- und Angststörungen», heisst es weiter. Unter anderem, weil in vielen Nothilfeunterkünften die Polizei regelmässig unangekündigt erscheint und Familien mitnimmt, um sie auszuschaffen. Die Kinder sind gemäss Studie «dauerhaft neuen traumatischen Ereignissen» ausgesetzt. Zugang zu psychologischer Versorgung ist oft unmöglich, etwa weil das Geld für die Anreise in eine Praxis fehlt.
Als Anreiz zur Ausreise ausgestaltet
Das Ausmass der Entrechtung sei einzigartig: «Die Kinder in der Nothilfe in manchen Kantonen sind die einzigen in der Schweiz, die keine Regelklassen besuchen dürfen», sagt Cesla Amarelle. Die Rechtsprofessorin an der Universität Neuenburg ist Koautorin des neuen Rechtsgutachtens. Sie verweist etwa auf die Praxis mit den Kindern von Sans-Papiers, die im Gegensatz zu Kindern in der Nothilfe seit über zwanzig Jahren die Regelschule besuchen dürfen, ja sogar müssen.
Die Bundesverfassung schreibt eigentlich vor, dass Kinder ein Anrecht auf Förderung haben; Artikel 12 über die Nothilfe verspricht allen Personen ein Recht auf ein «menschenwürdiges Dasein». «Dass die Verfassung in diesem Fall so klar missachtet wird, ist nicht normal», sagt die Professorin. Das habe auch mit der juristischen Zweideutigkeit der Nothilfe zu tun: Einerseits dient diese seit 2008 als Grundlage für die repressive Ausgestaltung des Lebens abgewiesener Asylsuchender. Das System hat erklärtermassen zum Ziel, die Lebensumstände der Bezüger:innen so zu gestalten, dass ihnen die Rückkehr in das Land, aus dem sie geflohen sind, als kleineres Übel erscheint. Andererseits war die Nothilfe eigentlich einst als verfassungsmässiges Grundrecht konzipiert worden. Zynisch und menschenverachtend ist das nicht nur gegenüber Kindern, sondern auch, wenn straffällige Erwachsene davon betroffen sind.
Verhalten optimistisch
Grundlage der MMI-Studie sowie des darauf aufbauenden Gutachtens waren Dutzende Interviews mit Kindern, Jugendlichen und Eltern. Zusätzlich hat das MMI eine Umfrage bei den zuständigen Behörden der Kantone durchgeführt. Alle, in denen minderjährige Nothilfebezüger:innen leben, haben daran teilgenommen – mit Ausnahme von Zürich. Auf Anfrage reagiert die verantwortliche Zürcher Sicherheitsdirektion nicht. Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagt der zuständige Regierungsrat Mario Fehr, dass man für solche «Alibiübungen» keine Zeit habe. Die Studie sei bloss darauf ausgelegt gewesen, diejenigen zu diskreditieren, die «das Asylrecht konsequent vollziehen».
«Das ist eine Vergrämungstaktik auf Kosten der Kinder», sagt Bettina Looser. «Und das Leid der Kinder ist ein weiteres Instrument, um die Eltern zur Ausreise zu bewegen.» Looser ist Geschäftsführerin der EKM. Sie sagt, man habe möglichst viele Stellen in die Studie einbeziehen wollen. «Schon vor Beginn der Erhebungen haben wir Mediationsgespräche mit Vertreter:innen des Staatssekretariats für Migration, der Kantone sowie der Zivilgesellschaft durchgeführt.»
Ein weiteres Treffen habe nun nach Abschluss der Studie stattgefunden. Looser gibt sich verhalten optimistisch. «Die Ergebnisse der Studie zeigen nicht zuletzt, dass die Kantone viel Handlungsspielraum haben, um die Situation der Kinder zu verbessern», sagt sie. Das zeige sich an den grossen Unterschieden bei der Ausgestaltung des Nothilferegimes. Der Bund schreibt zwar vor, dass die Sozialleistungen in der Nothilfe tiefer liegen müssen als in der Sozialhilfe. Aber wenn in manchen Kantonen Familien in Wohnungen untergebracht werden können, ist das überall möglich; wenn Kinder in manchen Kantonen die Regelschule besuchen dürfen, könnte das in allen Kantonen zur Norm werden.
«Nicht unsere Kinder»
Wichtig ist das gemäss Looser nicht nur, weil die politischen Kräfteverhältnisse im Parlament kaum rasche Erleichterungen des Regimes auf nationaler Ebene erwarten lassen, die Rechte hat schliesslich erst vor wenigen Wochen mit ihrem Nationalratsentscheid zum Familiennachzug vorläufig Aufgenommener wieder bewiesen, dass sie eine laxe Beziehung zu den Menschenrechten und zur Verfassung pflegt. Wichtig auch, weil es schnell gehen muss: «Ein Kinderleben geht in Meilenschritten voran», sagt Looser. «Ein vierjähriges Kind, das seit zwei Jahren von der Nothilfe lebt, tut dies bereits für die Hälfte seines Lebens.»
Markus Aeschlimann, im Frühling pensionierter Vorsteher des Amts für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern, kommt in der MMI-Studie zu Wort. Er bringt die gleiche Rechtfertigung vor, die die Diskussion seit Jahren prägt. Der Gedanke hinter dem System sei es, «dass diese Menschen die Schweiz selbstständig und schneller verlassen, wenn sie unattraktiv untergebracht werden». Die Verantwortung sieht er vor allem bei den Eltern, die angeblich «nicht für das Wohlergehen ihrer Kinder mitwirken».
«Kinder in der Nothilfe werden fatalerweise immer wieder als blosses Anhängsel ihrer Eltern betrachtet», sagt Bettina Looser. Sie erinnert an die «Schrankkinder» der Saisonniers. Schon damals sei in der öffentlichen Debatte immer wieder darauf verwiesen worden, dass deren Eltern ja heimkehren könnten. Und schon damals sei die Position vertreten worden, dass das «nicht unsere Kinder» seien.