Rüstungsreport 2022: Wenig Wertschöpfung, viel Schaden

Nr. 49 –

Die vierte Auflage des WOZ-Rüstungsreports ist da. Die Exportdaten des letzten Jahres lassen einen stabilen, ja wachsenden Markt vermuten. Doch der Schein trügt.

Illustration von Marcel Bamert: ein Mann in Appenzeller Tracht «pflanzt» Waffen im Garten

Für die Schweizer Rüstungsindustrie war 2022 ein goldener Jahrgang. Mit einem Volumen von 955 Millionen Franken lagen die Exporte von Kriegsmaterial, also von Waffen, Waffensystemen oder Produktteilen, die einzig und allein für den militärischen Gebrauch konzipiert sind und produziert werden, so hoch wie nie seit 1983 – so weit reicht die aktuelle Statistik des Seco zurück. Vor zwanzig Jahren betrug der Exportwert noch 278 Millionen Franken, vor fünf Jahren 447 Millionen. Dass 2022 zum Rekordjahr wurde, hängt wesentlich mit einer global feststellbaren Aufrüstungsspirale zusammen, die vor acht Jahren eingesetzt und seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine nochmals an Fahrt gewonnen hat.

Von diesem Prozess profitieren in der Schweiz insbesondere zwei Firmen: die Rheinmetall Air Defence AG, die in Zürich Oerlikon Flugabwehrsysteme herstellt, und die Mowag, die in Kreuzlingen Panzer produziert. Allein letztes Jahr liess sich Rheinmetall Air Defence Exporte im Umfang von insgesamt 971 Millionen Franken bewilligen (wobei nicht alle Exporte, die 2022 bewilligt wurden, auch im selben Jahr schon effektiv erfolgt sind). Zu den wichtigsten Kunden zählen Katar und Saudi-Arabien – zwei Länder, die fundamentale Menschenrechte missachten. Saudi-Arabien führt seit 2015 einen Krieg im Jemen, der dort eine humanitäre Katastrophe ausgelöst hat. Die Mowag erhielt 2022 Exportbewilligungen von «nur» 95 Millionen Franken. «Nur», weil der Schnitt der letzten fünf Jahre bei 760 Millionen Franken liegt, dank Grossaufträgen aus Dänemark, Rumänien und Botswana.

Der Fall Rheinmetall

Die vollen Auftragsbücher der Rheinmetall Air Defence AG und der Mowag umfassen vom Volumen her über die Hälfte der jährlich bewilligten Schweizer Kriegsmaterialexporte. Das heisst, in der ersten Liga spielen wirtschaftlich gesehen lediglich zwei Teams. Alle anderen Waffenschmieden sind im Vergleich dazu lediglich in der vierten oder fünften Liga. Eine gewaltige und risikobehaftete Kluft.

Die beiden Dominatoren der hiesigen Rüstungsindustrie sind nämlich Tochterunternehmen von ausländischen Grosskonzernen. Die Geschicke von Rheinmetall Air Defence bestimmt die Zentrale des deutschen Mutterkonzerns Rheinmetall AG in Düsseldorf, die Mowag gehört dem US-Rüstungskonzern General Dynamics. Die zentralen geschäftlichen Entscheidungen werden nicht in Oerlikon oder Kreuzlingen gefällt.

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Ab sofort ist der WOZ-Rüstungsreport in einer aktualisierten Version online. Die Website, die die Schweizer Profiteure im Geschäft mit dem Krieg offenlegt, ist bewusst als Rechercheplattform für zivilgesellschaftliche Akteur:innen – und Sie als Leser:in – aufgebaut. Steht in Ihrer Nachbarschaft eine Rüstungsschmiede? Wieso tauchen Recyclingfirmen im Rüstungsreport auf? Und wie kommt ein Trainingsflugzeug aus Stans zum Übernamen «Draco» und zu Einsätzen im Krieg gegen den Terror? Finden Sie es heraus auf www.rüstungsreport.ch.

 

Besonders in Düsseldorf hat man genau registriert, dass die Schweizer Regierung seit dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 kategorisch jegliche Weitergabe von Schweizer Kriegsmaterial ans ukrainische Militär ablehnt. Deutschland wollte Rheinmetall-Munition aus Schweizer Produktion an die Ukraine weitergeben, Dänemark Radschützenpanzer und Spanien Flugabwehrkanonen. Stets sagte der Bundesrat aus neutralitätspolitischen Gründen Nein. Der deutsche Mutterkonzern hat nach dieser Weigerung erste Konsequenzen gezogen: Die mittelkalibrige Munition für seine Flugabwehrsysteme stammte bisher zu einem Grossteil aus der Schweiz, doch nun hat Rheinmetall für mehrere Millionen Euro eine neue Munitionsfabrik in Niedersachsen gebaut und die Produktion aus der Schweiz abgezogen.

Die Rüstungsbranche ist nicht schnelllebig, Aufträge und Produktionen erstrecken sich oft über Jahre. Noch ist es deshalb zu früh, um einzuschätzen, ob die strikte neutralitätspolitische Auslegung des Bundesrats mittel- und langfristig zu einem Auftragsrückgang führen wird. Dass das niederländische Parlament diesen Sommer entschieden hat, keine Waffen mehr aus der Schweiz zu kaufen, deutet jedenfalls auf grössere Irritationen hin.

Vernachlässigbarer Industriezweig

Eine grosse Abhängigkeit von ausländischen Konzernen zeigt sich auch in der Munitionssparte, die mit einem Exportvolumen von 237 Millionen Franken – neben Panzern und Flugabwehrsystemen – ein drittes wichtiges Standbein ist. Wobei die Produktion auf mehrere Firmen entfällt. Als grösster Munitionsproduzent taucht im diesjährigen Rüstungsreport ein neuer Name auf: Swiss P Defence AG. Die Firma erhielt 2022 Exportbewilligungen im Umfang von knapp 170 Millionen Franken. Es handelt sich dabei um die ehemals bundeseigene Ruag Ammotec in Thun, die letztes Jahr an den italienischen Rüstungskonzern Beretta verscherbelt wurde (siehe WOZ Nr. 34/22). Swiss P Defence ist damit in bester Gesellschaft. Die weiteren wichtigen Schweizer Munitionshersteller gehören zu Rheinmetall oder dem norwegischen Rüstungskonzern Nammo.

Wirklich eigenständige Rüstungsfirmen mit einer gewissen Marktgrösse gibt es nur ganz wenige: die Pilatus Flugzeugwerke AG in Stans mit ihren Trainingsflugzeugen, die auf Hand- und Faustfeuerwaffen spezialisierte B&T aus Thun oder die Tessiner Idrobotica SA, die militärisch einsetzbare Unterwasserroboter herstellt. Dahinter folgen viele Firmen, die kleine, hochspezialisierte Produktteile für die Herstellung von Waffensystemen liefern.

Kurzum: Die hiesige Rüstungsindustrie liegt zunehmend in der Hand von ausländischen Konzernen. Die gängige Darstellung von Teilen der Wirtschaft, der (Sicherheits-)Politik und den Medien, wonach die Branche Garantin einer weitgehend autonomen Wehrfähigkeit unseres Landes sei, ist reine Augenwischerei. Wirtschaftlich gesehen handelt es sich ohnehin um einen vernachlässigbaren Industriezweig. Laut dem Industrieverband Swissmem beschäftigt er etwa 14 000 Personen (inklusive Zulieferern), was nicht einmal fünf Prozent der schweizweit 330 000 Angestellten im Maschinen-, Elektro- und Metallindustriesektor entspricht. Auch die Wertschöpfung für die Gesamtwirtschaft, die 2019 in einer BAK-Economics-Studie errechnet wurde, ist mit 0,3 Prozent äusserst bescheiden.

Das Schlupfloch

Letztlich ist es freilich kaum möglich, die Branche in ihrer Gesamtheit verlässlich einzuordnen. Denn während sich Kriegsmaterial klar quantifizieren und auch kontrollieren lässt, gilt das nicht für sogenannte Dual-Use-Güter, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke eingesetzt werden können. Dabei kann es sich etwa um Präzisionstechnologie, Chemikalien oder insbesondere Werkzeugmaschinen handeln. Es sind selbst keine tödlichen Waffen, aber sie können für deren Herstellung eingesetzt werden. Ihr Export erfordert deshalb eine Bewilligung, doch die Kriterien sind weit weniger streng als beim Kriegsmaterial.

Und vor allem gibt es ein Schlupfloch, das den sperrigen Titel «Generalausfuhrbewilligung» trägt: Eine solche erlaubt es Schweizer Firmen, ihre Dual-Use-Güter ohne jegliche Kontrolle oder Zolldeklaration in insgesamt 29 Länder zu exportieren, bei denen es sich mehrheitlich um Nato-Staaten handelt. Letztes Jahr waren rund 340 Unternehmen im Besitz einer solchen Generalausfuhrbewilligung, darunter fast 40, die eindeutig dem Rüstungssektor zugeordnet werden können.

Manche Firmen besitzen gar eine «ausserordentliche Generalausfuhrbewilligung», die – zugeschnitten auf die Bedürfnisse der jeweiligen Firma – weitere Länder umfasst. So darf etwa Pilatus unkontrolliert Dual-Use-Güter nach Saudi-Arabien, Indien oder Mexiko ausliefern. Dieses Exportförderungsinstrument verunmöglicht jegliche Transparenz über die Rüstungsexporte von Schweizer Unternehmen.

Eine immer wichtigere Rolle in der Kriegsführung wie auch für Polizeien und andere Sicherheitsorgane spielt die Überwachungstechnologie. Der Export solcher Produkte hat letztes Jahr ein Volumen von rund 45 Millionen Franken erreicht, wobei sich die Zuger Firma Polus Tech dank eines Grossauftrags aus Indonesien über knapp 23 Millionen Franken zum Schweizer Marktführer entwickelt hat. Und auch hier gibt es Schlupflöcher. Anfang Oktober konnte die WOZ als Teil einer grossen internationalen Recherche aufzeigen, wie die Intellexa-Allianz um den israelischen Exgeheimdienstler Tal Dilian Überwachungstrojaner an Despoten verkauft – und die Schweiz als sicheren Hafen zur Verschleierung ihrer Geschäfte nutzt (siehe WOZ Nr. 40/23).

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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