Die Haltung der Schweiz: Wegducken und profitieren
Bei der Konfiszierung von Oligarchengeldern versteckt sich der Bundesrat hinter Halbwahrheiten. Das passt zur Strategie der Schweiz seit Kriegsbeginn: Bloss nicht die Geschäfte stören.
Es war ein veritabler Coup, wenige Tage vor dem Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine: Als erster US-Präsident seit 2008 traf Joe Biden am Montag zum Kurzbesuch in Kyjiw ein. Im Gepäck hatte der Achtzigjährige neben warmen Worten auch die Zusage für Kriegsmaterial im Wert von 500 Millionen US-Dollar. Wenige Stunden zuvor hatte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ebenfalls Gewichtiges verkündet: Ähnlich wie während der Coronapandemie für die Pharmabranche brachte sie Abnahmegarantien für die Rüstungsindustrie ins Spiel, um die Produktion anzukurbeln. «Es geht ums Überleben der Ukraine», sagte sie. Ums Geschäft geht es dabei selbstredend auch.
Am Mittwoch schritt auch der Bundesrat zur symbolträchtigen Geste – und verkündete ein Hilfspaket von 140 Millionen Franken für die Ukraine und Moldawien. Die Schweiz als grosszügige Spenderin. Vergangene Woche waren die Signale aus Bern noch gänzlich anders. Der Bundesrat sagte, was er seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine meistens sagt: Kein Handlungsspielraum. Und schon gar keine Schweizer Alleingänge.
Gemeint war die zuletzt vieldiskutierte Konfiszierung in der Schweiz eingefrorener Oligarchengelder, um diese der Ukraine zur Verfügung zu stellen. «Die Einziehung eingefrorener privater Vermögenswerte widerspricht der Bundesverfassung», hielt der Bundesrat in einer Mitteilung deutlich fest. Zu diesem Schluss komme eine Arbeitsgruppe des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) unter der Leitung des Bundesamts für Justiz. «Geklärt» seien damit die Rechtsfragen zu den Geldern. Wirklich?
Erstaunliches Seco-Papier
Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, hat die WOZ die Herausgabe besagter Analyse verlangt. Und Erstaunliches festgestellt: Von einem klaren Verfassungsbruch ist dort nicht die Rede. Was tatsächlich drinsteht: dass der Einzug der Gelder einen schweren Eingriff in die von der Verfassung geregelte Eigentumsgarantie darstelle. Und dass ein solcher eine von einem Gericht bestätigte Straftat voraussetze. Ein feiner, aber wichtiger Unterschied.
Zwar kommt die Seco-Analyse zum Schluss, dass es für das Konfiszieren der Gelder aktuell keine Gesetzesgrundlage gebe. Das Schaffen einer solchen wäre aber gerade Sache der Politik. Und den Pfad dahin will die Schweiz nicht beschreiten. Sie lehnt es ab, auch das geht aus dem Dokument hervor, den sanktionierten Russ:innen weitere Meldepflichten zu deren Vermögen aufzuerlegen. Genau das hat aber etwa die EU getan, um bei Verletzung dieser Pflichten Strafverfahren einleiten zu können.
Vom «Mafiaparagrafen», Artikel 72 im Strafgesetzbuch, will der Bund ebenfalls nichts wissen. Entwickelt hat ihn der Basler Strafrechtsprofessor und Geldwäschereiexperte Mark Pieth. Er erlaubt den Einzug von Vermögenswerten, auf die kriminelle Organisationen Zugriff haben. Nun fordert Pieth, den Artikel auf Putins Entourage anzuwenden: Dieser habe den russischen Staat okkupiert und nutze ihn mit seiner Gefolgschaft zu kriminellen Zwecken. Im Seco-Papier heisst es, selbst bei Anwendung des Paragrafen könnten die Oligarchengelder gar nicht an die Ukraine gehen, weil die Geschädigten, wenn schon, in Russland zu finden wären. «Das ist doch lächerlich», sagt Pieth, «die russische Bevölkerung wurde geschädigt – aber die ukrainische um ein Vielfaches mehr.»
Für Pieth wird bei den Oligarchengeldern jeder mögliche Grund vorgeschoben, um nicht tätig werden zu müssen. Wie so oft im zurückliegenden Kriegsjahr. Alles ist ganz und gar unmöglich, bis es dann plötzlich möglich sein muss. «Die EU wird bald eine juristische Lösung präsentieren», sagt Pieth, «und dann wird der Druck auf die Schweiz sehr schnell sehr gross.»
Der Umgang mit Oligarchengeldern steht beispielhaft für die Politik des Schweizer Bundesrats im vergangenen Jahr. Zögern und wegducken, dazu ein kommunikatives Chaos: So lässt sie sich zusammenfassen. Nicht nur war die Schweiz im Vorfeld trotz Warnungen völlig blauäugig gewesen, was die Möglichkeit eines russischen Einmarschs anging, und entsprechend völlig überrumpelt, als dieser dann eintraf, wie die Geschäftsprüfungsdelegation in ihrem Jahresbericht schreibt. Denkwürdig im negativen Sinne war auch die anschliessende Reaktion.
Während die EU bereits ihr erstes Sanktionspaket beschloss, kam aus Bern am 24. Februar bloss heisse Luft: Von Sanktionen wollte Ignazio Cassis an der ersten Medienkonferenz nichts wissen. Anschliessend lief er einfach aus dem Saal und liess Medien und Expert:innen verdutzt zurück. Nach massivem Druck aus dem Ausland gab der Bundesrat am Montag – fünf Tage nach der Invasion – dann die Übernahme der EU-Sanktionen bekannt. Noch vor diesem erzwungenen Entscheid war Justizministerin Karin Keller-Sutter vorgeprescht: Sie persönlich sei dafür, liess sie in Brüssel verlauten. Die altbekannte Rivalität zwischen den beiden Freisinnigen verstärkte das herrschende Chaos im Umgang mit Russland bloss; weitere Beispiele der Uneinigkeit folgten.
Fragt man SP-Aussenpolitiker Fabian Molina nach dem vergangenen Politjahr, antwortet er mit einer Metapher: «Die Schweiz hat die Weltgeschichte immer als Zuschauerin beobachtet, sass am Rand des vorbeifliessenden Flusses und wehrte sich dagegen, Teil der Geschichte zu sein.» Business as usual, Offshorekapitalismus als Geschäftsmodell – entgegen allen globalen Entwicklungen, etwa dem Trend zu milliardenschweren staatlichen Investitionen.
Die Schweiz sei ein Land mit Wirtschaftsaussenpolitik, aber ohne Aussenpolitik, sagt der Nationalrat, der Staat wolle gar nicht handlungsfähig sein, weil er als Ermöglicher der Konzerne stets besser gefahren sei. Die zögerliche Reaktion sei ein «letztes Aufbäumen der isolationistischen Schweiz», der Kampf allerdings längst geführt, ist sich Molina sicher. Inzwischen habe man gemerkt, dass man Entwicklungen antizipieren müsse. Eine «Rückkehr der Politik» nennt er das.
Kriegsgewinne mit Rohstoffen
Der vielleicht letzte Kern des alten helvetischen Geschäftsmodells, wie Molina es beschreibt, ist der Rohstoffhandel. Auch dort stehen gerade Jahrestage im Kalender. Die Konzerne mit Sitz in Zug, Genf und Lugano präsentieren ihre Jahresabschlüsse – und die fallen prächtig aus. Die Branche hat in beispiellosem Ausmass vom Krieg gegen die Ukraine profitiert. Vor wenigen Tagen verkündete der Zuger Rohstoffkonzern Glencore für das letzte Jahr einen Reingewinn von über siebzehn Milliarden US-Dollar. 2021 lag dieser noch bei unter fünf Milliarden. Schon zuvor wurden Rekordprofite bei den riesigen Genfer Ölhändlern Trafigura und Vitol bekannt. Die Branche schwimmt im Geld, egal ob sie Öl, Gas oder Kohle, Getreide oder Soja verkauft.
Das soll auch weiterhin so bleiben, findet der Bundesrat. Werden im Parlament Fragen nach Übergewinnsteuern gestellt, wie sie Grossbritannien, Spanien oder Italien eingeführt haben, beantwortet das Finanzdepartement sie seit Monaten abschlägig. Eine solche Steuer würde Standortnachteile bringen, der Kriegsprofit sei schwierig abzugrenzen, und Übergewinne gebe es sowieso nicht. Als dann noch Balthasar Glättli von den Grünen fragte, schickte das Departement nicht mal mehr eine ausformulierte Antwort. So wenig Lust auf Milliarden Zusatzeinnahmen war selten. Glättli schob mittlerweile eine parlamentarische Initiative nach. Für seine Parteikollegin Franziska Ryser ist die Steuer das passende Gegenstück zu den Coronahilfen und dem Schutzschirm für die Energiebranche: «Wenn ein Unternehmen unverschuldet ein Problem hat, hilft der Staat. Und wenn ein Konzern unverschuldet profitiert, gibt dieser etwas zurück.»
Doch bislang kann nichts die Party der Rohstoffhändler stören. Auch nicht die Embargos auf Kohle, Gold oder Öl aus Russland. Dabei müsste im Zuger «Amtsblatt» längst ein Konkurs nach dem anderen vermeldet werden. Acht der neun grössten russischen Kohleförderer haben sich dort niedergelassen, und seit dem Sommer können sie ihr einziges Produkt in den meisten Industrienationen nicht mehr verkaufen. «Schliessungen haben wir jedoch keine festgestellt», hält Robert Bachmann fest, Experte für den Rohstoffhandel bei der NGO Public Eye. Bachmann hat in umfassenden Berichten das Treiben des Schweizer Kohlesektors beleuchtet. Mittlerweile fällt kein Licht mehr darauf. «Es ist alles noch viel intransparenter geworden», klagt er.
Demos gegen den Krieg
«Die dunklen Mächte, Frau, die dich da schinden, sie haben Name, Anschrift und Gesicht», heisst es in der Kriegsfibel von Bertolt Brecht. Die Firmen, die Putins Kriegsmaschinerie mit am Laufen halten, haben ihre Adresse häufig in Zug. Aus Anlass des Jahrestags des Angriffs auf die Ukraine lädt das «Komitee für ein verantwortungsvolles Zug» deshalb am 25. Februar zu einer Besichtigung des Rohstoffhandelsplatzes ein. Treffpunkt ist um 11.15 Uhr am Bahnhof.
In Zürich findet am 24. Februar um 17.30 Uhr ein offizieller Gedenkanlass der Stadt mit Vertreter:innen der ukrainischen Diaspora statt. Am Tag darauf erheben die Russ:innen im Exil ihre Stimme. Der Verein «Russland der Zukunft» lädt zu einer Kundgebung um 14 Uhr auf dem Bürkliplatz, die für alle offen ist. Das Motto: «In der Ukraine muss Frieden, in Russland Freiheit herrschen.»
Eine landesweite Demonstration gegen den russischen Angriffskrieg findet am Samstag, 4. März, in Bern statt. Beginn ist um 13.30 Uhr auf der Schützenmatte.
Auch im Ölsektor komme er kaum noch an Informationen über Preise oder Abnehmer. Die Absatzmärkte hätten sich nach Asien verschoben, Russland habe eine Schattenflotte von Öltankern geschaffen, die auch nicht mehr von europäischen Firmen versichert würde, sagt Bachmann. Dazu stellt er eine Reihe neuer kleiner Firmen in der Schweiz fest, die ins Geschäft mit russischem Öl eingestiegen sind. Ob Verbindungen zu sanktionierten Konzernen und Personen bestehen, lässt sich nicht nachweisen, auch weil in der Schweiz ein Register mit den wirtschaftlich Berechtigten von Unternehmen fehlt. Bachmann sagt: «Die Aufsicht der Behörden besteht darin, anzunehmen, dass die Unternehmen sich schon an die Regeln halten. Das reicht in diesem Hochrisikosektor nicht.»
Aufsicht tut not
Nationalrätin Ryser will genau das ändern. Sie nimmt eine alte Forderung von Public Eye auf und verlangt eine Aufsichtsbehörde für die Rohstoffbranche analog zur Finanzmarktaufsicht Finma. «Der Sektor ist bis heute unterreguliert, es gibt keine Transparenz – niemand weiss, wer von wem welche Rohstoffe zu welchen Preisen kauft», sagt sie. Gerade wenn es um die Umsetzung der Sanktionen gehe, sei es unerlässlich, Klarheit zu schaffen.
Die Interessen des Bundes sind allerdings anders gelagert. Im Juni liess der Bundesrat das Wirtschaftsdepartement eine Studie erstellen, in der die Auswirkungen des Ölembargos untersucht wurden. Der Befund beruhigte den Bundesrat: Die wirtschaftlichen Aussichten der Händler seien ungetrübt, heisst es darin. Und: «Eine Verlagerung ins Ausland ist für die Mehrheit der befragten Unternehmen unwahrscheinlich.» Egal ob Aussen- oder Innenpolitik – in der Schweiz ist alles Standortpolitik. Getan wird, was die Geschäfte nicht stört. Ob gerade Krieg ist oder nicht.