Elektronische Soundscapes: «Unsere Kunst ist traurig und therapeutisch»

Nr. 11 –

Mit ihrem Musikprojekt Warnyakannya verarbeiten die beiden Kyjiwer Musiker Anton Slepakov und Andrii Sokolov den Krieg. Eine Begegnung in Berlin.

die Band Warnyakannya bei einem Konzert auf der Bühne
Weitermachen, auch wenn Raketen fliegen: Anton Slepakov (vorne) und Andrii Sokolov sind Warnyakannya. Foto: © Yuri Gryaznov, Kirai Gigs

Es waren Momente des Schocks, des Traumas, des Nicht-wahr-haben-Wollens, die die Einwohner:innen der Ukraine am 24.  Februar 2022 durchlebten. Einer von ihnen war Anton Slepakov aus Kyjiw, in seiner Heimat bekannt mit seinem Elektrotrio VGNVZH – ehemals Vagonovozhatye (Wagenführer). Slepakov teilte seine Eindrücke in den folgenden Tagen auf Facebook, er informierte über Freiwilligenhilfe, über Möglichkeiten, zu spenden, über das Kriegsgeschehen und wie er es wahrnimmt. Sein Freund Andrii Sokolov, ebenfalls Musiker und ebenfalls aus Kyjiw, sagte daraufhin zu ihm: «Wir müssen diese Stimmungen und diese Emotionen dokumentieren. Jeden Tag ereignen sich andere Dinge im Krieg, jeden Tag ändert sich die Situation, das alles müssen wir festhalten.»

Stottern und Krieg

Aus diesem Gedanken ist ihr gemeinsames Duo Warnyakannya geworden. Der Name spielt mit einer Doppelbedeutung des ukrainischen Wortes, das einerseits so viel wie «stottern, stammeln» bedeutet und zugleich die Assoziation des englischen «war» aufruft. Die beiden Musiker vertonen mit diesem Projekt die meist tagebuchartigen Texte Slepakovs; elektronische Soundscapes kommen mit Spoken Word und Rap zusammen. Mehr als fünfzig Konzerte hat das Duo in der Ukraine gespielt, zuletzt tourten die beiden durch Westeuropa. «Uns geht es darum, eine Einheit mit dem Publikum zu kreieren, um diese dramatische Situation gemeinsam zu verarbeiten», sagt Slepakov. «Das scheint mir derzeit die Aufgabe von uns Künstlern zu sein.» Anton Slepakov und Andrii Sokolov erzählen dies, während sie beim ukrainischen Exilfestival Art Is a Weapon in Berlin zu Gast sind. Kurz nach ihrem Auftritt sitzen die beiden im Café des Veranstaltungsorts, Slepakov mit dunkler Wollmütze und Brille, Sokolov mit roter Wollmütze und hellem Vollbart. Slepakov ist in Kyjiw geboren und seit rund dreissig Jahren mit verschiedenen Bands in der ukrainischen Rock- und Musikszene unterwegs. Sokolov stammt aus Dnipro, lebt aber inzwischen auch in Kyjiw, er produziert elektronische Musik unter seinem bürgerlichen Namen. Zuletzt waren beide Anfang Februar dieses Jahres in der ukrainischen Hauptstadt. Ihre Konzerte seien nicht vergleichbar mit Auftritten vor Beginn des Angriffskriegs, Zerstreuung und Spass biete Warnyakannya nicht: «Unsere Kunst ist traurig und therapeutisch», so Slepakov.

Ihr Auftritt während des Berliner Art-Is-a-Weapon-Festivals hat zuvor vermittelt, worum es den beiden geht: Zu dunklen, wummernden elektronischen Tönen rappt Slepakov seine Texte, dahinter sieht man verfremdete Kriegsaufnahmen oder grafische Videoinstallationen. Über dem Screen kann man derweil die Lyrics auf Englisch mitlesen. Sie handeln etwa davon, wie sich das Bild Kyjiws mit Beginn des Angriffskriegs schlagartig wandelte, wie überall Fenster mit Klebeband abgeklebt wurden, um sie vor den Explosionen zu schützen.

Mit dem Projekt Warnyakannya verarbeiten die beiden Musiker zudem, was ihnen durch den Krieg alles genommen wurde. Ein Song heisst einfach «Nick Cave», er handelt von der Sehnsucht, ihre Lieblingskünstler in einem friedlichen Land live zu erleben. «Leute wie wir würden unter normalen Umständen auf Konzerte von Nick Cave oder den Pixies gehen», sagt Sokolov. «Solche Künstler kommen nicht oft in die Ukraine, wir haben darauf gewartet und hingefiebert.» Nun sind solche Auftritte in weiter Ferne, doch der Song deutet vorsichtig an, was eine Zeit nach dem Krieg für jeden persönlich bringen könnte: «Jeder von uns wird sein ganz persönliches Venedig haben / sein eigenes Paris oder Barcelona […]», heisst es im Text.

Lebensstil unter neuen Umständen

Doch von diesem Punkt ist die Ukraine noch weit entfernt, aktuell findet jede kleinste Alltagshandlung unter Kriegsbedingungen statt. «Ob es ums Einkaufen, Kaffeetrinken oder Touren geht, alles hat einen Beigeschmack des Krieges. Wir müssen unseren Lebensstil an diese neuen Umstände anpassen», erzählt Slepakov. Als sie kürzlich ein Konzert zum Geburtstag des bekannten ukrainischen Stand-up-Comedians Vasily Baydak im Club Bel Etage in Kyjiw gespielt hätten, sei zeitgleich andernorts in der Stadt eine Rakete in ein Wohnhaus eingeschlagen. «Es war so irre, und die Leute hatten Angst, aber am Ende blieb uns auch da nichts anderes übrig, als einfach weiterzumachen.»

Das Duo will den Ukrainer:innen im Krieg aber nicht nur mental, sondern auch finanziell helfen. Sie sammeln Spenden für die Initiative «Musicians Defend Ukraine», die jene Musiker:innen unterstützt, die zum Kämpfen an die Front gegangen sind. Ihnen werden dank der Spendengelder Medikamente, Heizgeräte und Kriegsgerät wie Drohnen geschickt. Slepakov und Sokolov wollen das auf Tour eingespielte Geld an die Organisation weitergeben. Derweil nehmen sie beständig weiter Tracks auf. Beide sehnen aber wohl nichts mehr herbei als den Tag, an dem dieses Musikprojekt der Geschichte angehört.

Anton Slepakov / Andrii Sokolov: «warнякaння» («Warnyakannya»), nesmontirovanniy.bandcamp.com/album/war.