Klimaschutz: Wenn die Antworten nicht mehr genügen
Im Juni kommt das Klimaschutzgesetz an die Urne. Es ist der Gegenentwurf zur Gletscherinitiative, die der ehemalige WOZ-Redaktor Marcel Hänggi begründet hat. Was treibt ihn an? Und ist das Gesetz ein guter Ersatz für die Initiative?
Nein, sagt Marcel Hänggi zuerst. Ein Schlüsselerlebnis für seinen Klimaaktivismus habe es nicht gegeben. Er sei als junger Journalist in die Klimaberichterstattung hineingerutscht, bei der «Weltwoche», die er 2002 verliess, nachdem Roger Köppel Chefredaktor geworden war. Doch seine Schwerpunkte lagen noch woanders. Eigentlich ist Hänggi Historiker.
«Schade, dass die Gletscher fast weg sind, wenn sie gross ist», habe er gedacht, als 2005 die erste seiner beiden Töchter zur Welt kam. «Das war etwa mein Wissensstand. Dass die Gletscherschmelze auch dramatische Konsequenzen für den Wasserhaushalt hat, war mir da noch nicht bewusst.»
Schlüsselmoment mit Klimaanlage
Am 18. Juni kommt das Klimaschutzgesetz an die Urne. Das Parlament hat ihm im Herbst deutlich zugestimmt, dann hat die SVP das Referendum ergriffen. Das Gesetz ist der indirekte Gegenentwurf zur Gletscherinitiative – die es ohne Marcel Hänggi nie gegeben hätte.
Beim Erzählen merkt er, dass es doch ein Schlüsselerlebnis gab: «2007, als ich merkte, dass ich mit den Antworten, die ich bekomme, nicht mehr zufrieden bin.» Der Weltklimarat IPCC stellte seinen Vierten Sachstandsbericht vor, der Vorsitzende Rajendra Pachauri sagte: «Wir müssen unseren Lebensstil ändern.»
Hänggi erzählt: «Auf die Nachfrage eines Journalisten, was das heisse, sagte der Leiter der Arbeitsgruppe, gestern seien die Klimaanlagen zu stark eingestellt gewesen. Sie hätten das korrigiert, nun gehe es allen besser, und das helfe erst noch dem Klima. Ich dachte: Das kann doch nicht wahr sein: ‹Lebensstil ändern› soll heissen, ein bisschen an der Klimaanlage zu drehen?»
Marcel Hänggi war nur vier Jahre WOZ-Redaktor, von 2003 bis 2007. Aber er prägte die Zeitung stark mit. Er war der Erste, der die Klimaberichterstattung systematisch anging – und setzte den Standard gleich hoch. Hänggi gehört zu den wenigen Journalist:innen, die die Klimaberichte wirklich lesen, nicht nur die Zusammenfassungen. Auf die Frage nach Material zum Klimaschutzgesetz stellt er gleich ein vierzigseitiges Papier zusammen. Er wirkt wie einer, der viel verlangt, von sich und anderen.
2007 verliess er die WOZ, wurde freier Journalist und schrieb in den folgenden Jahren mehrere Bücher über Klimapolitik, Energie und Technik. Mit ihrem weiten Fokus, der Fragen sozialer Gerechtigkeit immer mitdenkt, sind sie heute noch aktuell. Dass er kein naturwissenschaftliches Fach, sondern Geschichte studiert hat, bereut er nicht: «Klimapolitik dreht sich um ökonomische, sozialwissenschaftliche und philosophische Fragen. Ich muss nicht jedes atmosphärenphysikalische Detail verstehen.» Dann fällt ihm noch ein Schlüsselerlebnis ein: «An meiner Maturafeier sagte der Rektor: ‹Ihr werdet euch spezialisieren und nie mehr so ein breites Wissen haben wie jetzt.› Ich dachte: Nein. Dieses Niveau will ich halten.» Gerade hat er Mathematik repetiert – zusammen mit seiner Tochter, zur Maturavorbereitung.
Von der Pariser Klimakonferenz 2015 berichtete er in einem Blog auf der WOZ-Website. Und schrieb am Ende einen Leitartikel: Man rette die Welt nicht, indem man beschliesse, sie dürfe nicht untergehen. «Doch ‹Paris› setzt ein Ziel, auf das man sich berufen kann.» Das Abkommen sei ein immenses Versprechen, aber es erfülle sich nicht von selbst. Es gelte, das Versprochene einzufordern. Es war der Moment, als Hänggi beschloss, Aktivist zu werden.
Seine Idee war simpel. Statt hochkomplexe «Lösungen» wie das Emissionshandelssystem zu entwerfen, sollten wir viel weiter vorne ansetzen: dafür sorgen, dass Öl, Gas und Kohle nicht mehr in den Handel kommen. Das wurde der Kern der Gletscherinitiative: «Ab 2050 werden in der Schweiz keine fossilen Brenn- und Treibstoffe mehr in Verkehr gebracht.»
Ja, das wäre nötig, dachten damals viele, die ihn kannten. Aber es wird nur eine kleine Minderheit überzeugen. Sie täuschten sich.
Plötzlich zu wenig radikal
Denn dann kam der Hitzesommer 2018. Das Gras in den Bergtälern verdorrte, im Rhein starben die Fische. Plötzlich redeten alle über das Klima. Im August trafen sich die Initiant:innen am schmelzenden Steingletscher in den Urner Alpen und gründeten den Verein Klimaschutz Schweiz. Er fand Unterstützer:innen in allen Parteien. Im Dezember begannen Schüler:innen rund um den Globus zu streiken. Und plötzlich wirkte die Gletscherinitiative nicht mehr radikal, im Gegenteil: Netto null bis 2050 sei viel zu spät, fanden junge Aktivist:innen. Im Frühling 2019 begann die Unterschriftensammlung, im Spätherbst wurde die Initiative eingereicht. Dazwischen fand die grösste Klimademo der Schweizer Geschichte statt.
Nun kommt der indirekte Gegenentwurf zur Abstimmung (vgl. «Darum gehts am 18. Juni» im Anschluss an diesen Text). Das Komitee hat die Initiative zugunsten des Klimaschutzgesetzes bedingt zurückgezogen. Darin steht kein Fossilverbot mehr. Hänggi bedauert das: «Ich finde immer noch, ein Verbot wäre die logische Konsequenz, wenn man auf netto null kommen will.» Trotzdem sei auch das Gesetz ein klares Bekenntnis zum Ausstieg aus den fossilen Energieträgern.
Aber was ist mit dem Zusatz, die Verminderungsziele müssten «wirtschaftlich tragbar» sein? Der habe ihn zuerst sehr gestört, sagt Hänggi. «Aber die Umweltkommission des Nationalrats hat schriftlich festgehalten, dass es dabei um die Gesamtwirtschaft geht, nicht um einzelne Unternehmen. Natürlich müssen sich Betriebe, die direkt am Erdöl verdienen, umorientieren.» Die Gefahr, dass das Gesetz zu lasch umgesetzt werde, sehe er auch. «Aber das wäre bei einem Verfassungsartikel nicht anders.» Vor allem aus Tempogründen findet er den Rückzug der Initiative richtig: «Ein Gesetz ist in der Praxis mehr wert, weil es sich konkreter und schneller umsetzen lässt. Und die Zeit drängt. Gegen das Gesetz zur Umsetzung der Gletscherinitiative hätte man auch wieder das Referendum ergreifen können.»
Im Abstimmungskampf, das zeichnet sich ab, wird es vor allem um Energiepolitik gehen. Die SVP mobilisiert gegen das «Stromfressergesetz». Sie profitiert davon, dass viele Leute Energie mit Strom gleichsetzen und vergessen, dass heute sechzig Prozent des Schweizer Energiebedarfs fossil gedeckt werden – mit Öl und Gas, zu einem grossen Teil aus autoritären Regimes. «Die Energiewende steigert den Strombedarf, aber senkt den Gesamtenergiebedarf. Und sie steigert die Selbstversorgung mit Energie massiv», betont Hänggi und erinnert daran, dass jene, die jetzt beim Strom plötzlich autark sein wollen, nie ein Problem mit Öl- und Gasimporten hatten. Wichtig ist ihm auch, dass die Investitionen in den Heizungsersatz nicht zulasten der Mieter:innen gehen: «Vermieter dürfen keine Investitionen überwälzen, die sie nicht selbst bezahlt haben. Und wenn erneuerbar geheizt wird, sinken die Nebenkosten.»
Zerrissen in Strassburg
Marcel Hänggi ist jetzt 53. In den letzten Jahren hat er als Gymnasiallehrer gearbeitet, jetzt widmet er sich in Vollzeit dem Abstimmungskampf. Er scheint weicher geworden zu sein, auch zweifelnder. Sein Buch von 2015 hiess «Fortschrittsgeschichten», 2021 rezensierte er ein Werk aus einer Welt, die sich nicht mit solchen Begriffen fassen lässt: «An das Wilde glauben» der französischen Anthropologin Nastassja Martin, die in Kamtschatka von einem Bären attackiert wurde (siehe WOZ Nr. 12/21). Das Buch gebe eine Ahnung davon, «dass es eine Art gibt, anders mit unserer Mitwelt umzugehen, als es das rationalistische Denken tut, das diese Mitwelt zum ausbeutbaren Objekt degradiert und zerstört», schrieb er. Es sei ihm immer noch sehr wichtig, sagt Hänggi. Er habe es in einer tiefen Krise gelesen. Die Zerrissenheit begleite ihn weiter, wie kürzlich mit den Klimaseniorinnen in Strassburg: «Ein wunderbarer Tag, die Magnolien blühten, die Anwältin der Klägerinnen argumentierte brillant.» Sie habe die Dramatik der Klimakrise so schonungslos aufgezeigt, dass er es kaum ertragen habe. «Es gibt Tage, da kann ich nach Hause gehen und das Thema Klima hinter mir lassen. Aber es gelingt mir nicht immer.»
Beide Töchter gehen an Klimademos; die ältere hat ihre Maturaarbeit zur Klimabewegung geschrieben. «Ich hätte sie fragen sollen, ob sie nach Strassburg mitkommt. Ich muss mich noch daran gewöhnen, eine erwachsene Tochter zu haben …»
Klimaschutzgesetz: Darum gehts am 18. Juni
Netto null Treibhausgase bis 2050: Dieses Ziel steht im Klimaschutzgesetz, über das am 18. Juni abgestimmt wird. Um es zu erreichen, muss die Schweiz die Treibhausgase «soweit möglich» im Inland vermindern und den Rest mit Negativemissionen ausgleichen. Diese sind nicht zu verwechseln mit Offsets, sogenannten Kompensationen: Zu Negativemissionen führen Prozesse, die der Atmosphäre aktiv CO₂ entziehen. Das kann mit technischen Mitteln geschehen, wie es die Zürcher Firma Climeworks im kleinen Rahmen macht (siehe WOZ Nr. 5/19). Oder auf natürlichem Weg, etwa wenn Flächen aufgeforstet werden oder der Humusgehalt von Böden zunimmt. Bund und Kantone sorgen dafür, dass solche Kohlenstoffspeicher zur Verfügung stehen. Die Verminderungsziele müssen «technisch möglich und wirtschaftlich tragbar» sein. Auf dem Weg zu netto null sind Zwischenziele definiert.
Eines der wichtigsten Instrumente der Vorlage steht nicht im Klimaschutzgesetz, sondern wird ins Energiegesetz geschrieben: Der Bund fördert den Ersatz von fossilen Heizungen und den stromfressenden elektrischen Widerstandsheizungen mit 200 Millionen Franken pro Jahr – zehn Jahre lang. Er investiert also zwei Milliarden in die Dekarbonisierung der Gebäude. Das sind genau fünfzig Prozent des Betrags, den die Bewegung Renovate Switzerland für denselben Zweck gefordert hat.
Weiter im Klimaschutzgesetz: Auch Unternehmen müssen bis 2050 auf netto null kommen. Wenn sie bis 2029 Fahrpläne ausarbeiten, bekommen sie fachliche Unterstützung vom Bund. Finanzielle Unterstützung gibt es für die «Anwendung von neuartigen Technologien und Prozessen», die die Wirtschaft den Klimazielen näherbringen.
Bund und Kantone sorgen dafür, dass sich die Schweiz vor den Auswirkungen des Klimawandels schützt und «Schäden an Menschen und Sachwerten» vermeidet. Sie haben eine Vorbildfunktion, entsprechend muss die Bundesverwaltung bereits 2040 auf netto null kommen. Die Kantone und die bundesnahen Betriebe sollen dasselbe «anstreben». Und auch der Finanzplatz leistet «einen effektiven Beitrag zur emissionsarmen und gegenüber dem Klimawandel widerstandsfähigen Entwicklung».
Artikel 12 des Gesetzes hat weitreichende Auswirkungen, wenn man ihn ernst nimmt: Alle Erlasse des Bundes und der Kantone, «insbesondere in den Bereichen CO₂, Umwelt, Energie, Raumplanung, Finanz-, Land-, Wald- und Holzwirtschaft, Strassen- und Luftverkehr sowie Mineralölbesteuerung, sollen so ausgestaltet und angewendet werden, dass sie zur Erreichung der Ziele dieses Gesetzes beitragen».