Durch den Monat mit Leo Scherer (Teil 1): Wie war das im Kadetten­unterricht?

Nr. 31 –

Der Umweltjurist Leo Scherer präsidierte bis vor kurzem den WOZ-Förderverein. Dass er zum Linken wurde, war nicht unbedingt vorgezeichnet. In seiner Kindheit gab es viel militärische Früherziehung.

Leo Scherer auf seiner Dachterrasse.
«Es hat einen angeschissen. Aber man hat es halt gemacht, so wie die Schule.» Leo Scherer auf seiner Dachterrasse.


WOZ: Leo Scherer, wir sitzen auf der Dachterrasse Ihres Hauses in Wettingen, das Sie mit Ihrer Partnerin vor zwanzig Jahren gekauft und ökologisch saniert haben. Haben Sie eigentlich immer in Wettingen gewohnt?

Leo Scherer: Die ersten Monate wohnten wir in Neuenhof, dem Nachbardorf. Dann zogen wir nach Wettingen ins Dynamo-Heim, eine Arbeitersiedlung der Brown Boveri (BBC), wo mein Vater als Dreher arbeitete. Die Fabrik war in Baden, aber jeder zweite Steuerzahler in Wettingen war damals bei der BBC beschäftigt. Hinzu kamen Gastarbeiter, von denen viele in Gemeinschaftsbaracken wohnen mussten. Neuenhof, wo ich ab dem Kindergarten bis zur Matura 1973 wieder wohnte, hatte Ende der Fünfziger 1800 Einwohner:innen, zehn Jahre später waren es 7000. Mein Schulweg ging anfangs fast nur freien Wiesen entlang – ein paar Jahre später standen überall Häuser.

Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

In der Bezirksschule in Baden kam es schon darauf an, ob du ein Kind des Stadtpatriziertums oder eines Arbeiters aus dem Vorort warst. Das war aber auch die Zeit, als sie in der Schweiz merkten: Die Amis, die haben so viele Studierte und wir nicht. Also hat man die Mittelschulen ausgebaut und auch für Unterschichtskinder geöffnet. Sonst wäre ich wohl wie mein Vater in die Fabrik gegangen. Aufgewachsen sind wir aber bescheiden. Die BBC war bekannt für tiefe Löhne. Hatte man ein Loch in den Schuhen, reichte es oft erst im nächsten oder übernächsten Monat, um neue zu kaufen.

Was hiess das für Ihren Vater?

Mein Vater machte einen gewissen Aufstieg, als er in den frühen Sechzigern von der grossen Fabrikhalle in Baden ins neue Werk in Birr wechselte. Dort waren modernere und grössere Maschinen. So konnte er an der grössten Karusselldrehbank arbeiten. Das war die Zeit, als die BBC weltweit für Flusskraftwerke und AKWs produzierte. Die Maschine, an der mein Vater arbeitete, war aber so teuer, dass sie nie stillstehen durfte. So wurde der Schichtbetrieb eingeführt. Vor allem die Nachtschichten waren eine extreme Belastung. Da musste er tagsüber durchschlafen – in einem Haushalt mit fünf Kindern, Grossvater und anfangs auch noch einem Onkel.

Und wie war das im Untergymnasium in Baden?

Das Spektrum reichte vom Fabrikdirektoren- bis zum Büezersohn. Mädchen und Buben waren aber noch getrennt. Und dann gab es im preussisch geprägten Aargau noch die Kadetten, eine Art Militär-Spielen mit Buben.

Freiwillig?

Nein, das war Pflichtfach. Erst 1972 hiessen die Aargauer:innen eine Änderung im Schulgesetz gut. Mein älterer Bruder musste noch mit Karabiner auf 200 Meter schiessen – und ich mit Kleinkaliber auf 50 Meter. Jedes Jahr wurde bestimmt, wer welche Chargen bekommen soll: Hauptmann, Vizehauptmann, Zugführer. Uniform war Pflicht. Für Eltern mit einem Büezerlohn war das ein Problem.

Und für Sie?

Es hat einen angeschissen. Aber man hat es halt gemacht, so wie die Schule. Die ganze Bezirksschule, von zwölf bis sechzehn. Dazu gab es auch noch den VU, den Vorunterricht in den Turnvereinen, wo man, finanziert vom Militärdepartement, einen Abend in der Woche ertüchtigt wurde.

Militärische Früherziehung im Kalten Krieg …

… und kurz vor dem 68er-Aufbruch! Aber dafür bin ich mit Jahrgang 1953 zwei, drei Jahre zu spät geboren. 1968 war ich fünfzehn. Da hast du noch nicht viel von der Welt gewusst. Ausser dem aus dem «Sonntag» und der «Woche», einer Illustrierten des katholischen Walter-Verlags. Wir waren eine katholische Grossfamilie: fünf Buben, ein Mädchen. Und es war klar: Der erste wird der Stammhalter. Das zweite Kind sollte eigentlich ein Mädchen sein. So haben sie mir eine weiblich geprägte Rolle gegeben. Ich hütete die kleine Schwester. Das hat mich aber nie gestört. Ich war nicht so der kompetitive Typ.

Was für eine Bedeutung hatte die Kirche?

Mutter sorgte dafür, dass wir in jeden Sonntagsgottesdienst gingen – und ein- oder zweimal die Woche in Andachten. Mein älterer und mein jüngerer Bruder haben ministriert, ich habe das verweigert. Ich habe das Rampenlicht nicht gesucht. Später habe ich ein paarmal aus Bibelstellen vorgelesen, da sah ich einen Sinn. Und natürlich waren wir Buben alle in der Jungwacht und die Schwester im Blauring. Ausser der Pfarrei- und der Schulbibliothek gab es ja nicht so viele Anregungen.

Und was hat Sie dann zum Trotzkismus gebracht?

Als mein älterer Bruder 1968 ins Lehrersemi ging, kamen ganz neue Einflüsse. Zuerst brachte er «Summerhill» nach Hause, ein Buch über demokratisches Erziehen. Da traten wir alle aus der Jungwacht aus. Entscheidend war auch mein jüngerer Bruder, als er in die Handelsschule in Aarau ging und dort in eine WG zog. Da gab es eine Ortsgruppe der Internationale der Kriegsdienstgegner. Das Erste, was wir machten, war lesen: Marx, Lenin – und Ernest Mandel.

Leo Scherer (70) arbeitete zunächst einige Jahre im Baudepartement des Kantons Aargau. Später engagierte er sich für umweltpolitische NGOs, von 2002 bis 2011 als Anti-Atom-Kampagnenleiter bei Greenpeace Schweiz. Seit über dreissig Jahren sitzt er im Einwohnerrat von Wettingen.