Durch den Monat mit Leo Scherer (Teil 3): Wie stehts um die Überwindung des Kapitalismus?
Welche Konsequenzen Leo Scherer aus dem verlorenen Glauben an die Revolution zog. Was die Abstimmung zur Abschaffung der Armee veränderte. Und wie ihm ein kreativer SVP-Regierungsrat zu einer Stelle verhalf.
WOZ: Leo Scherer, letzte Woche sagten Sie, dass Sie spätestens ab 1983 nicht mehr an die grosse Revolution in der Schweiz glaubten. Warum eigentlich?
Leo Scherer: Ab da war definitiv klar, dass sich die Arbeiter:innen nicht mehr zu einem machtvollen Faktor formieren können. Wenn immer mehr von ihnen im gehobenen Konsum verhaftet sind, fragst du dich, ob du deine Energie nicht etwas pragmatischer einsetzen solltest.
Und wie?
Ich selbst engagierte mich von da an vor allem in der Umweltbewegung. Einige von uns Trotzkist:innen traten den Grünen oder der SP bei. Andere wiederum haben sich gezielt proletarisiert. Ein Studienfreund zum Beispiel machte eine Elektronikerlehre und wurde Gewerkschaftssekretär. Die Unia wäre heute niemals so schlagkräftig und streikfreudig, wenn nicht auch Trotzkist:innen massgebend an ihr beteiligt gewesen wären.
An eine Überwindung des Kapitalismus aber glauben Sie nicht mehr?
Im Moment sehe ich schlicht nicht, wer das machen könnte. Für Marx, Trotzki und Lenin war das die Arbeiter:innenklasse. Aber diese Klasse gibt es bei uns so nicht mehr. Es gibt sie vielleicht ausgelagert in China, Indien, Indonesien, Bangladesch oder afrikanischen Ländern.
Natürlich kann man mit den heutigen elektronischen Medien Aufstände anstossen. Aber wenn du siehst, wie die kapitalistische Weltwirtschaft die Lebensgrundlagen dieses Planeten korrumpiert und es kaum schaffen wird, rechtzeitig damit aufzuhören, musst du sagen: So etwas wie ein Antikapitalismus, der den Kapitalismus dauerhaft überwindet – das hätte längst passieren müssen. Und der kapitalistische Staat mobilisiert ja auch enorme Gegenkräfte, wenn er seine Grundprinzipien ernsthaft gefährdet sieht. Auch in der friedlichen Schweiz.
Kommt Ihnen dazu ein konkretes Beispiel aus jüngerer Zeit in den Sinn?
1975, angesichts der grossen Anti-AKW-Besetzung in Kaiseraugst, gab es im Aargauer Grossrat ernsthaft eine Debatte, ob man das Militär mobilisieren soll.
Revolutionäre Soldatenkomitees gab es da keine mehr?
Doch, aber nicht mehr lange. Auch da kamen wir bald zur Erkenntnis: So wie Arbeiterräte nicht die Fabriken, werden wohl auch Soldatenkomitees nicht die Armee übernehmen können. Dafür aber wurde dann ja 1982 die GSoA gegründet: Wenn sich die Armee schon nicht von innen bekämpfen lässt, schaffen wir sie halt gleich ganz ab! Das Abstimmungsresultat 1989, als über 35 Prozent Ja zur Abschaffung der Armee sagten, war schon gewaltig: Wenn du den bürgerlichen Staat seiner Hauptrepressionsmaschinerie entledigen kannst, hast du einen ziemlich wichtigen Schritt gemacht. Aber klar, selbst wenn wir die Abstimmung gewonnen hätten: Das wäre nie umgesetzt worden. Eher hätte es einen Militärputsch gegeben. Doch die Wirkung war krass.
Inwiefern?
Bei meinem letzten WK nach der Abstimmung war das wie Tag und Nacht. Die waren plötzlich so was von nett! Weil sie wussten: Dieses gute Drittel haben wir selber produziert – mit all diesem sinnlosen Getue, all den Schikanen und dieser militärisch völlig ineffizienten kollektiven Beschäftigungstherapie. Reine Disziplinierung! Im Sinn von: stramm bürgerliche Menschen produzieren, die nicht aufmucken, möglichst viel schaffen, keinen hohen Lohn wollen – und vor allem nie streiken oder sonst was Schräges machen. In so einem Klima hatten wir als Soldatenkomitees schon einen Boden, auf dem du aufwiegeln konntest.
Sie selber gingen dann aber andere Wege.
Nach dem Jusstudium arbeitete ich als Praktikant beim Aargauer Baudepartement und habe dann Stellvertretungen als juristischer Mitarbeiter übernommen. Als ich mich auf eine feste solche Stelle bewarb, hiess es zuerst: «Nein, Sie wollen wir nicht.» Dann aber, nachdem ein anderer seine Bewerbung wieder zurückgezogen hatte, kamen sie auf mich zurück. Bevor ich die Stelle antreten konnte, musste ich aber noch beim Baudirektor, dem damaligen SVP-Regierungsrat Ulrich Siegrist, antraben.
Warum?
Siegrist sagte: «Herr Scherer, ich verstehe das nicht: Wie kann man am Tag für den Staat arbeiten – und am Abend dagegen?»
Und Sie, was sagten Sie?
Ich sagte: «Schauen Sie, Herr Siegrist, ich mache hier Facharbeit wie jeder andere auch. Der Rest ist Privatsache.» Worauf Siegrist meinte, dass er meine Arbeit schätze, mich aufgrund meiner politischen Ausrichtung aber nicht zur Wahl als Beamter vorschlagen könne. Darum biete er mir eine privatrechtliche Anstellung an – zum Lohn eines Beamten. Das war ein absolutes Novum. Ich muss schon sagen: Dieser SVP-Regierungsrat war kreativ.
Leo Scherer (70) präsidierte von 2011 bis 2023 den Förderverein ProWOZ. Nach seiner Tätigkeit im Aargauer Baudepartement engagierte sich der Jurist hauptsächlich für umweltpolitische NGOs.