Durch den Monat mit Leo Scherer (Teil 5): Sind Sie auf etwas in Wettingen stolz?

Nr. 35 –

Wie Leo Scherer zum «rechtlichen Gewissen» des Wettinger Einwohner:innenrats wurde. Warum es in seinen Augen nichts spezifisch Wettingerisches gibt. Und wo er das grösste Problem der Aargauer Gemeinde sieht.

Leo Scherer
Leo Scherer: «Wieso soll ich in den lokalen Turnverein, wenn ich nicht turnen möchte?»

WOZ: Leo Scherer, das «Badener Tagblatt» nannte Sie unlängst das «rechtliche Gewissen» des Wettinger Einwohner:innenrats.

Leo Scherer: Das ist übertrieben. Tatsächlich aber werde ich oft gefragt, ob ein bestimmtes Vorgehen rechtlich korrekt sei. Als Mitglied der Finanzkommission musste ich auch schon intervenieren, als man das Budget durchs Band linear kürzen wollte – obwohl das nicht zulässig ist. Und der SVP-Fraktion bot ich einmal an, zu mir in die Beratung zu kommen.

Was bewog Sie eigentlich 1990 dazu, in die Lokalpolitik zu gehen?

Die Überzeugung, dass wir mit der reinen marxistischen Lehre nichts Konkretes erreichen.

Weg von der Ideologie, hin zum Pragmatismus?

Kann man so sagen. In diese Zeit fiel ja auch die Geburtsstunde der Alternativen Listen. In Wettingen war das 1987 die «Alternative Liste für Umweltschutz und sinnvolle Arbeitsplätze». 1990, als ich für einen Kollegen in den Rat nachrutschte, spannten wir mit der «Frischen Brise» aus der lokalen Jugendbewegung zusammen. Daraus wurde das heutige «WettiGrüen», dem ich angehöre – als Teil einer Fraktionsgemeinschaft mit der SP.

33 Jahre später sitzen Sie immer noch im Rat. Was war Ihr grösster Erfolg?

Meine Hauptwirkung ist eher präventiv. Indem die Ratskolleg:innen wissen: Da ist ein Typ, der genau hinschaut und versteht, um was es geht – sodass sie die grossen Schweinereien nicht machen können. Spätestens Ende 2025 ist aber Schluss für mich.

Aber wir haben vorgesorgt: Im Herbst 2021 haben wir zwei Vertreter:innen aus der Klimajugend zuoberst auf unsere Liste gesetzt. Mit Ema Savic haben wir jetzt eine engagierte Studentin im Rat. Zum Glück! Im Allgemeinen ist Wettingen ja praktisch ehrgeizfrei. Man will nirgends richtig gut sein. Und schon gar keine Stadt: Bei der Abstimmung dazu gab es 2009 ein klares Nein. Immerhin haben wir inzwischen eine umfassende Kitafinanzierung – nachdem «WettiGrüen» das schon in den Neunzigern gefordert hatte und 2012 eine Initiative einreichte, die dann auch angenommen wurde. Aber manchmal staunst du schon  ein wenig …

Worüber zum Beispiel?

Vor vielen Jahren fragte mich ein Bekannter, ob ich bei der Ausarbeitung einer Tempo-30-Initiative helfen würde. Diese wurde dann zwar abgelehnt. Doch zehn Jahre später, nachdem trotzdem mehrere Tempo-30-Zonen eingerichtet worden waren, fand die damalige CVP plötzlich: «Wir sind die Tempo-30-Partei.» Da habe ich denen im Lift gesagt: «Jetzt muss ich mir fix noch mal etwas einfallen lassen, von dem ihr in zehn Jahren sagen werdet, ihr hättet es erfunden.»

Gibt es auch etwas an Wettingen, worauf Sie stolz sind?

Lokalpatriotismus liegt mir fern. Wieso soll ich in den Turnverein, wenn ich nicht turnen möchte? Um wiedergewählt zu werden? Für mich gibt es nichts spezifisch Wettingerisches. Wichtiger ist mir vielmehr zu verstehen: Hey, wir sind eine Agglogemeinde mit Aufgabenstellungen, die man als solche nun mal hat. Und die wirklich grossen Themen sind ja eh vom Bund oder vom Kanton vorgegeben.

Welche meinen Sie konkret?

Nehmen wir das Ausländer:innen- und Integrationsgesetz: Für Gemeinden gelten die Verordnungen des Bundes. Trotzdem gab es in Wettingen einen Aufstand, als es darum ging, einen Beitrag an die Regionalstelle zu leisten. Dabei wäre es logisch, dass eine Gemeinde mit 20 000 Einwohner:innen mehr beisteuert als kleinere Gemeinden. Das allergrösste Problem in Wettingen ist aber unsere Finanzpolitik.

Wo ist da der Haken?

Seit 22 Jahren haben wir immer nur etwa zwei Drittel von dem an Steuern eingenommen, was wir zwingend investieren müssten. So stiegen die Schulden auf 118 Millionen Franken an. In dieser Zeit hat man zweimal die Steuern gesenkt – und den nötigen Unterhalt einfach hinausgeschoben. Mit dem Resultat, dass wir seit einigen Jahren riesige Investitionen tätigen müssen. Allein 50 Millionen Franken für die Erneuerung des Sportzentrums mit den Schwimmbädern und den beiden Eisfeldern! Wettingen gilt ja als Sportstadt …

Also doch: Stadt!

Ja, Sportstadt dann doch. Ich habe im Voraus gesagt: Wir müssen den Leuten reinen Wein einschenken. 50 Millionen Franken in 25 Jahren zu amortisieren, heisst: jährliche Mehrausgaben von zwei Millionen. Das wären vier Steuerprozente mehr. Wollte man innert zwanzig Jahren alle Schulden tilgen, wären jährlich nochmals zwölf Steuerprozente nötig. Doch selbst viel moderatere Steuerfusserhöhungen wurden an der Urne zweimal versenkt.

Zeit für eine Fusion mit Baden?

Zumindest für eine Stadtunion. Es ist ja lächerlich: Da streitet man sich um 70 000 Franken fürs Kurtheater Baden. Diesen Krämergeist bringst du wohl nie ganz weg. Das ist ja nichts spezifisch Wettingerisches.

Von 2011 bis 2023 war Leo Scherer (70) Präsident des Fördervereins ProWOZ. Er bedankt sich hier nochmals bei allen Mitgliedern, dank denen die WOZ grössere Recherchen umsetzen kann.