Luxus im Alltag: Kuss an der Ampel

Nr. 1 –

Illustration von Luca Schenardi: Sektglas

In meinem Leben dreht sich, wie bei uns allen, leider viel ums Geld. Meine Miete ist teuer, meine Arbeit muss es daher auch sein. Selbst als ich meinem Freund von diesem Text erzählte, lautete die Einleitung: «Du wirst nicht glauben, wie gut die bei der WOZ zahlen …» Ich bin also keine dieser Leute, die erklären, «wahrer Reichtum» sei Liebe oder Freundschaft oder die Schäfchenwolken am ersten warmen Frühlingstag. Also doch Sportwagen und goldene Uhren und fliegende Superjachten? Und weil wir schliesslich links sind, bitte für alle?

Ich finde mein Leben luxuriös, wenn ich eine Kneipe betrete und aus einer Ecke, in der meine Freund:innen sitzen, meinen Namen höre. Oder wenn ich mich mit meiner Familie über eine lustige Erinnerung schlapp lache. Oder wenn ich mit meinem Freund an der Ampel stehe und einen Kuss bekomme, einfach so, weil gerade Zeit dafür ist. Luxus gibt es für mich nicht alleine, er ist eine soziale Erfahrung. Dafür muss man gar kein besitzloser Hippie sein. Schliesslich nützt die tollste fliegende Superjacht nichts, wenn es niemanden gibt, den man damit neidisch machen kann.

Warum blicke ich dann trotzdem mit Skepsis auf jene Menschen, die von Freundschaft und Liebe als wahrem Luxus sprechen? Weil sie die vielen Bedingungen übersehen, die es braucht, um diese Dinge öffentlich leben zu können. Damit ich meinen magischen Kneipenmoment erleben kann, muss es überhaupt erst einmal eine Kneipe geben, in der meine Freund:innen und ich uns wohlfühlen und auch das fünfte Bier noch bezahlen können – in Zeiten von Gentrifizierung und schwindender Kiezkultur keine Selbstverständlichkeit.

Zu meiner Familie muss ich mehrere Hundert Kilometer mit dem Zug fahren, dafür braucht es anständige öffentliche Infrastruktur. Meinen Freund auf der Strasse küssen zu können und keine Sekunde an unsere Sicherheit zu denken, ist ein Privileg, das Millionen Paare weltweit nicht haben, weil die politischen Verhältnisse es nicht zulassen. Die Liste liesse sich ewig fortführen, kurzum: Luxus, das sind die anderen. Öffentlicher Luxus ist alles, was uns das Zusammensein ermöglicht.

Özge İnan ist Autorin und Journalistin und lebt in München. Ihr Roman «Natürlich kann man hier nicht leben» erschien im Piper-Verlag.

Illustration: Luca Schenardi