Wörterkunde: «Öffentlicher Luxus würde uns allen die Angst nehmen»
Ein Leben in Reichtum und Fülle für alle: Lemon Banhierl über die Sicherung von Grundbedürfnissen, prunkvolle Bahnhofshallen und eine vielversprechende Zukunftsvision.
WOZ: Lemon Banhierl, unter Luxus stellen wir uns für gewöhnlich Güter vor, die nur wenigen zugänglich sind. Sie aber fordern im gleichnamigen Sammelband «öffentlichen Luxus». Bekommt jede:r in Zukunft eine Rolex nach Hause geschickt?
Lemon Banhierl: Das, was gemeinhin darunter verstanden wird – eine Rolex oder eine Jacht –, ist privater Luxus. Dessen Charakter besteht darin, zu viel von den Ressourcen der Welt zu verbrauchen und sich zu viel des gemeinschaftlich erarbeiteten Reichtums anzueignen. Das ist der Luxus weniger auf Kosten vieler und der Natur – und ganz und gar nicht unsere Idee von Luxus. Das «öffentlich» zielt auf das Versprechen eines guten Lebens in geteiltem Reichtum. Und das soll nicht privat, also durch Ausschluss von anderen ermöglicht werden, sondern kollektiv organisiert und allen zugänglich sein.
Wieso wollen Sie einen Begriff umdeuten, der ja gerade Exklusivität verspricht? Müsste man nicht, wenn es bei öffentlichem Luxus um die Sicherung von Grundbedürfnissen geht, eher von «öffentlicher Selbstverständlichkeit» sprechen?
Klar, die bedingungslose Versorgung von Grundbedürfnissen sollte selbstverständlich sein. Aktuell ist sie das aber nicht. Deshalb ist öffentlicher Luxus erst mal eine Perspektive: Sie fordert, dass die Daseinsvorsorge in Zukunft kein Luxus mehr ist, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wir haben den Begriff aber nicht nur deswegen gewählt.
Sondern?
Erstens, weil wir die Exklusivität des bestehenden, privaten Luxus angreifen müssen, um die Grundversorgung aller zu ermöglichen. Daneben hat der Begriff aber auch eine zweite Konnotation: Reichtum oder Fülle. Auf diese beziehen wir uns positiv. Es muss selbstverständlich sein, dass die Grundbedürfnisse erfüllt werden – und dass diese Erfüllung auch schön gestaltet wird. Darüber hinaus gibt es noch viel mehr zu gewinnen. Wir skizzieren eine Zukunft, die wir uns wünschen und erkämpfen wollen. Eines haben wir seit der Veröffentlichung des Buches gemerkt: Der Begriff provoziert. Ganz viele sagen erst mal: «Ah, Luxus, das ist doch genau das, was wir uns nicht mehr leisten können. Das ist doch eine Form von Überfluss, die die Umwelt zerstört.» Doch er bringt die Menschen auch zum Nachdenken darüber, wie ein Reichtum des Öffentlichen aussehen könnte.
Vergesellschaftungsexpert:in
Lemon Banhierl (30) hat in Berlin und Koblenz Philosophie und politische Ökonomie studiert und forscht zum Verhältnis von Staat und sozialen Bewegungen. Banhierl war bei der Initiative «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» aktiv und Gründungsmitglied des Thinktanks Communia, der Strategien für eine demokratische Wirtschaft und Vergesellschaftung entwickelt. Ende Oktober ist von Communia und der Bund-Jugend der Sammelband «Öffentlicher Luxus» (Karl-Dietz-Verlag) erschienen – unter anderem mit Beiträgen von Nancy Fraser, Eva von Redecker und George Monbiot.
Privaten Reichtum kann es ja nur geben, weil er nicht für alle gilt. Wieso hält sich das Versprechen, jede:r könnte früher oder später daran teilhaben, dennoch so hartnäckig?
Ich glaube nicht, dass viele Menschen das Gefühl haben, diese Form von privatem Luxus je erreichen zu können – vielleicht noch eine Rolex, aber die meisten wissen doch, dass sie nie einen Privatjet besitzen werden. Wahrscheinlich wünschen sich viele, sie wären so reich, dass sie nicht mehr arbeiten müssten, sich alles leisten und selbst bestimmen könnten, wie und wo sie leben und wie mobil sie sein wollen. Der einzige Weg zu diesem guten Leben scheint in unserer heutigen Gesellschaft der individuelle Kampf: weil wir kaum die Erfahrung machen, wie sich Gesellschaft kollektiv gestalten, materieller Reichtum kollektiv erkämpfen lässt. Dabei liegt gerade in Letzterem der Weg zu Freiheit und Sicherheit für alle. Woran es uns gerade fehlt, sind die Vorstellungskraft und der Glaube daran, dass wir ein gutes Leben für alle erkämpfen können. Und es fehlt an starken linken Kräften, die das realistisch erscheinen lassen.
Oft geht es in linken Debatten um Verzicht, etwa bei den Degrowth-Ansätzen, die das Wachstum beschränken wollen. Sie aber sprechen von «mehr». Ist das nicht ein Widerspruch?
Die Antwort, die öffentlicher Luxus darauf gibt, lautet: Private Suffizienz, also Genügsamkeit, ist möglich, wenn wir gut funktionierende öffentliche Strukturen haben. Bei einem gut ausgebauten öffentlichen Verkehr braucht fast niemand mehr ein Auto. Haben wir gute, schöne öffentliche Schwimmbäder, braucht man keinen Privatpool. Nutzen wir die natürlichen Ressourcen gemeinsam, können wir alle mehr davon haben und gleichzeitig weniger verbrauchen.
Viele sträuben sich aber ja auch deshalb gegen wirksamere Klimamassnahmen, weil sie denken, sie müssten dann auf ihr Auto verzichten – ohne dass der Bus deshalb öfter fährt. Diese Sorge haben etwa die rechten Gegner:innen eines besseren CO₂-Gesetzes in der Schweiz instrumentalisiert.
In Berlin haben wir ähnliche Erfahrungen gemacht: Der «Klima-Volksentscheid» scheiterte, weil nicht genug Leute abstimmten und viele dagegen waren. Dabei ging es ja nur darum, die Klimaziele für Berlin von 2045 auf 2030 vorzuziehen. Unsere Erklärung für die Gegenstimmen ist, dass – angesichts der derzeitigen Machtverhältnisse – viele das Gefühl haben, wenn sich jetzt etwas grundsätzlich verändern würde, fiele das nicht zu ihren Gunsten aus: dass nicht bei den Superreichen gestrichen wird, keine Privatjets und Jachten abgeschafft werden, nicht das dritte oder vierte Auto verboten wird, sondern dass es Leute trifft, die eh schon nicht so viel haben. Die Menschen spüren ja, dass ihnen die öffentliche Daseinsvorsorge geraubt wurde – und jetzt haben sie das Gefühl, das Private würde auch noch angegriffen; das Letzte, was ihnen noch bleibt, um im Leben materielle Sicherheit zu gewährleisten.
Wie kann man dieser Sorge begegnen?
Indem man solche Forderungen mit der Perspektive verbindet, die nötige Mobilität und Energie auf andere Weise zur Verfügung zu stellen. Ein höherer CO₂-Preis bedeutet höhere Kosten für die Nutzung fossiler Energien, darauf verzichten kann man aktuell aber noch nicht. Um die Preise auf Fossile zu erhöhen, ist der Ausbau erneuerbarer Energien oder öffentlicher Verkehrsmittel also essenziell. Interessant wäre, über Obergrenzen zu reden statt über Preiserhöhungen: dass es etwa ab 5000 Kilowattstunden Stromverbrauch pro Kopf und Jahr richtig teuer würde. Leute, die ihren Pool beheizen, müssten dann draufzahlen, alle anderen nicht. Dann bleibt natürlich die Frage, ob die meisten denken, sie könnten irgendwann auch mal einen Pool haben, und deshalb gegen diese Lösung wären. Immerhin wäre aber klar, dass das zum Leben wirklich Nötige bezahlbar bleibt und nur privater Überfluss deutlich teurer wird.
Gibt es erfolgreiche historische Beispiele für öffentlichen Luxus?
Viel von dem, was wir heute Sozialstaat nennen, ist ein bestehender Ansatz dafür. Die Krankenversicherung in Deutschland hat zwar sehr viele Lücken, aber im Gegensatz zu jener in den USA steht sie allen zur Verfügung – eine Sicherheit, die viel Angst nimmt. Ein anderes historisches Beispiel ist die Grand Central Station in New York. Bahnhöfe sind zwar einerseits für die öffentliche Mobilität nötig, andererseits sind sie oft unglaublich prunkvoll gestaltete Orte, die allen zugänglich sind: klassischer öffentlicher Luxus. Um Beispiele zu finden, müssen wir aber gar nicht so weit in die Vergangenheit schauen: Nehmen wir das Neun-Euro-Ticket, mit dem man einen Monat lang durch Deutschland fahren konnte. Das war zwar nicht gratis, hat aber vielen eine Idee davon gegeben, wie wirklich zugängliche Mobilität aussehen könnte. Es haben viele die Bahn genutzt, die das sonst nicht gemacht hätten oder es sich sonst nicht leisten könnten.
Vor einigen Jahren wurde in Zürich darüber abgestimmt, ob alle Schwimmbäder gratis sein sollen – und die Leute haben das abgelehnt.
Das hängt vermutlich damit zusammen, dass sich viele generell benachteiligt fühlen – und es anderen nicht gönnen, wenn die etwas gratis bekommen. Es geht aber auch andersrum: In Basel kann man im Rhein schwimmen, und niemand fordert, dass man dafür bezahlen müsste. Daran sieht man auch, was der Umgang mit der Natur ausmacht. In Berlin kann man wegen der schlechten Wasserqualität nämlich nicht im Fluss baden. In der Pariser Innenstadt reinigen sie jetzt die Seine für die Olympischen Spiele. Was dabei entsteht, ist ein öffentliches Schwimmbad, das auch später noch Bestand haben wird.
Wobei die Frage dann ist, für wen das Pariser Stadtzentrum überhaupt zugänglich ist … Was verheisst öffentlicher Luxus für jene, die auf ganz andere Weise gesellschaftlichen Ausschluss erfahren, etwa Sans-Papiers?
Es darf natürlich nicht darum gehen, für eine bürgerliche Klasse noch mehr rauszuholen und dabei soziale Unterschiede zu vergessen. Ein schönes Bad sollte es also nicht nur beim Eiffelturm geben, sondern auch in der Peripherie. Unabhängig vom sozialen Status bedeutet öffentlicher Luxus aber einen Zugewinn an Sicherheit und Freiheit für alle, eine Überwindung der Angst. Für Menschen ohne Papiere heisst das, nicht ständig in der Gefahr leben zu müssen, festgenommen oder ausgeschafft zu werden. Wichtig ist, den Luxus auf verschiedenen Ebenen zu denken, nach möglichen Ausschlüssen zu suchen und diese zu überwinden. Die Krankenversicherung muss eben für alle da sein, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Oder nehmen wir den Mangel an Kitaplätzen, der Frauen und Flinta*-Personen besonders stark einschränkt. Bezahlbare und gute Kitaplätze würden einen Zugewinn an Freiheit und Sicherheit bedeuten.
Öffentlicher Luxus wäre also die radikale Ausweitung des Service public – bei Bildung, Energie, Pflege, Mobilität und Wohnraum. Das tönt toll, nur sieht es gerade nicht danach aus, als würde dieser Komplettumbau gelingen. Was wären realistische Schritte in Richtung Luxus für alle?
Ein aktuelles Beispiel ist die Initiative «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» (DWE) in Berlin zur Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen. Etwas allgemeiner lässt sich daraus einer der zentralen Ansätze auf dem Weg zu öffentlichem Luxus ableiten: Neben dem Ausbau der bestehenden Daseinsvorsorge ist das die Vergesellschaftung privatisierter Güter, vor allem von Infrastrukturen. Auf globaler Ebene könnte die Aussetzung oder Abschaffung von Patenten auf Impfstoffe ein realistischer erster Schritt sein. Diese Patente haben ja zu einer sehr ungleichen Verteilung von Covid-Impfstoff geführt – aus reinen Profitinteressen und nicht aus einer gesamtgesellschaftlichen Überlegung.
Die Berliner:innen haben den DWE-Volksentscheid angenommen – doch der Senat verschleppt das Anliegen. Kann das Projekt «öffentlicher Luxus» etwas sein, das der stark geschwächten Linken wieder Auftrieb verleiht?
Das hoffen wir! Ich glaube, dass sich ein Programm für öffentlichen Luxus sehr gut dazu eignet, Klimaproteste mit sozialen Kämpfen zu verbinden, aber auch Kämpfe über nationale Grenzen hinweg. Der gesellschaftlichen Linken, auch den linken Parteien, fehlt ja gerade eine konkrete Vision davon, wie die Welt wirklich besser werden, wie eine Reaktion auf die Widersprüche zwischen Sozialabbau und Klimakrise aussehen kann. Öffentlicher Luxus schafft genau eine solche positive Perspektive von sozialer Gerechtigkeit, klimapolitischen Lösungen und Umverteilung. DWE ist ein gutes Beispiel: Es wird einen zweiten Volksentscheid geben, und wenn der durchkommt, ist das bindend. Erste Schritte nach vorn gibt es also schon.
So etwas wie DWE setzt einen Staat voraus, der das umsetzen kann. Wo sehen Sie die Rolle der Institutionen?
Die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen muss gesetzlich geregelt werden – und das kann nur der Staat. Ihn braucht es für die Überführung der Wohnungen in eine gemeinwirtschaftliche Organisation. Später soll aber nach der Vorstellung der Initiative ein Rat aus Mieter:innen, Beschäftigten und Vertreter:innen der Stadtbevölkerung den Wohnraum organisieren. Ein solches Modell liesse sich auf andere Bereiche übertragen, die Energieversorgung etwa. Gerade in diesem Bereich gibt es aber auch schon etablierte gemeinwirtschaftliche Organisationsformen: In Deutschland wurde die Energiewende lange stark von Energiegenossenschaften vorangetrieben – ebenfalls eine Form kollektiver Organisation, die unabhängig vom Staat, aber auch nicht privatwirtschaftlich ist. Ich glaube, es braucht unterschiedliche Formen auf verschiedenen Ebenen – Stromnetze etwa müssen weiterhin zentral verwaltet werden, vieles kann aber dezentral und unabhängig von staatlichen Institutionen organisiert sein.
Wer würde in einem solchen Modell darüber entscheiden, was zu öffentlichem Luxus gehört?
Es darf natürlich nicht einfach ein Luxuskomitee vorschreiben, was öffentlich zur Verfügung gestellt wird. Gremien aus Mieter:innen und Beschäftigten könnten etwa Wohnraum organisieren und über den legitimen Verbrauch pro Kopf diskutieren. Auch für die Energieversorgung brauchen wir demokratische Verwaltungskonzepte, in die alle Perspektiven einfliessen – jene der Konsument:innen wie auch die der Produzent:innen.
Auf lokaler oder nationaler Ebene leuchtet das ein, aber eine Umgestaltung der Wirtschaft müsste ja global passieren …
Ein gutes Beispiel ist die Kampagne «RWE & Co. enteignen», mit der wir beim Thinktank Communia zusammenarbeiten. Dem deutschen Energiekonzern gehören auch in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten viele Projekte. Da stellt sich die Frage ganz konkret: Gelingt die Enteignung von RWE, was passiert dann mit all den Projekten? Es bringt ja nichts, wenn deutsche Konsument:innen entscheiden, wie anderswo Energie produziert und verteilt wird. Unsere Idee ist, mit den dort organisierten Menschen über die richtige Verwaltungsform zu sprechen und das Eigentum wie die Verwaltung an lokale, demokratische Strukturen abzugeben. Das ist noch kein Konzept für die Transformation der Weltwirtschaft, aber ein konkreter Ansatz, der sich aus unserer Arbeit ergibt.
Eine entscheidende Frage haben wir bisher ausgespart: jene nach der Finanzierung von öffentlichem Luxus. Was schwebt Ihnen da vor?
Bei Vergesellschaftung stellt sich die Frage der Finanzierung als eine nach der Entschädigung für die enteigneten Konzerne: Die Entschädigung der Immobilienkonzerne etwa liesse sich gemäss dem Vorschlag von DWE über die Mieteinnahmen in den nächsten vierzig Jahren refinanzieren – und es würde auch noch etwas für Neubau und Modernisierungen übrig bleiben. Weil wir ja jetzt schon sehr viel für unsere Grundbedürfnisse zahlen, ist die Frage nach der Finanzierung oft eher von den Gegner:innen vorgeschoben: Lassen wir nämlich die Profite der Unternehmen weg, wird alles günstiger. Zugleich müsste der Staat durch eine Steuer auf hohe Vermögen und Erbschaften für Gerechtigkeit sorgen und die bestehende Daseinsvorsorge ausbauen.
Ist ein Land wie die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie bei der Gestaltung von öffentlichem Luxus im Vorteil?
Das kann auf vielen Ebenen sehr hilfreich sein. Viel wichtiger ist aber eine Demokratisierung der Unternehmen selbst: dass bei Post oder Bahn nicht nur der Staat Einfluss nimmt, sondern die Beschäftigten und die Konsument:innen in den Aufsichts- und Verwaltungsräten sitzen und gemeinsam über den Preis einer Dienstleistung und deren Entlohnung entscheiden. Da treffen sich die beiden entscheidenden Gruppen: Die einen wollen höhere Löhne, die anderen günstigere Preise, alle wollen einen besseren Ausbau – und dann muss man sich einigen. Das wäre eine wirklich direktdemokratische Auseinandersetzung, nicht über Repräsentant:innen vermittelt. Heute gibt es zwar einen grossen Demokratieapparat, aber der grösste Teil unserer Lebens – die Wirtschaft – ist nicht demokratisch organisiert.