Linke Parteien in Deutschland: Grüner Nachwuchs zieht aus

Nr. 40 –

Der Austritt des gesamten Bundesvorstands der jungen Grünen aus der Mutterpartei weckt Hoffnungen in der deutschen Linken. Ist er das Momentum für eine Erneuerung?

Der Award für die zerstrittenste deutsche Partei ging in der letzten Woche ausnahmsweise nicht an die Linkspartei, sondern an das Bündnis 90 / Die Grünen. Von der «tiefsten Krise seit einer Dekade» sprach Omid Nouripour bei einer Pressekonferenz am 25. September, auf der er und seine Kovorsitzende Ricarda Lang ihren Rückzug von der Spitze ankündigten – so wie der gesamte Bundesvorstand der Partei.

Der Schritt folgte auf vier Wahlen, die für die Grünen verlustreich ausgegangen waren: die Europawahlen im Juni, die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und zuletzt am 22. September in Brandenburg. Dort wie auch in Thüringen ist die Partei gänzlich aus dem Landtag geflogen. Als verantwortlich dafür gelten vornehmlich die Bundespartei und die unbeliebte Ampelregierung. Entsprechend wurden jetzt Konsequenzen gezogen. Eine Neuaufstellung der Bundesspitze soll dazu dienen, den Weg für die geplante Kanzlerkandidatur des grünen Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck freizumachen: Nächstes Jahr sind Bundestagswahlen, und Habecks Wahlkampfmanagerin in spe, Franziska Brantner, gilt als aussichtsreichste Anwärterin auf den weiblichen Part eines neuen Führungsduos.

Während die «grossen Grünen» sich ganz auf Habeck ausrichten – einen Realo durch und durch, einen Rechten innerhalb der Grünen –, haben sich einige junge Parteimitglieder auf den gegenteiligen Weg gemacht, nämlich nach links. Nur einen Tag nachdem Nouripour seiner Partei die tiefste Krise seit einem Jahrzehnt attestiert hatte, erklärte der zehnköpfige Bundesvorstand der Grünen Jugend geschlossen seinen Austritt aus den Grünen. Gleichzeitig kündigte er an, die 16 000 Mitglieder starke Jugendorganisation nach deren Bundeskongress ebenfalls zu verlassen. Bis dahin wollen die Abtrünnigen noch die Amtsgeschäfte zu Ende führen und danach eine neue Jugendorganisation gründen. Junge Grüne aus verschiedenen Bundesländern, etwa die Vorstände aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Saarland, Schleswig-Holstein oder Bayern, schlossen sich in den vergangenen Tagen diesem Schritt an.

Aufruf für «etwas Neues»

Bemerkenswert ist dabei die klassisch linke und kaum grünliberale Ausrichtung, die diese rund um ihren Rückzug kommuniziert haben. In einem gemeinsamen Austrittsschreiben, das zugleich ein Aufruf für «etwas Neues» ist, nennen sie als Grund dafür das Regierungshandeln der Grünen, die in der Koalition Asylrechtsverschärfungen, Sparpolitik und die Aufrüstung der Bundeswehr mitgetragen haben. Sie hätten in den letzten Jahren «immer wieder erlebt, dass die Grünen nicht dazu bereit sind, sich mit den Reichen und Mächtigen anzulegen», heisst es. Das aber sei notwendig, denn der grosse gesellschaftliche Konflikt sei jener «zwischen Arm und Reich, oben und unten», soziale Fragen gehörten in den Mittelpunkt gestellt. Schliesslich formulieren die Jungpolitiker:innen das Ziel einer starken linken Partei in Deutschland, zu der man beitragen wolle.

Nicht nur deshalb erinnert vieles an Österreich: Die Jungen Grünen hatten sich dort 2017 von der Mutterpartei getrennt und bei den Wahlen im selben Jahr die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) unterstützt – im Bündnis KPÖ Plus. Später wurden sie zu deren Jugendorganisation, zur Jungen Linken. Das Wiederaufblühen der KPÖ, die zwar bei den Nationalratswahlen am letzten Sonntag (vgl. «Wo ist die antifaschistische Gegenmacht?») nicht über die Vierprozenthürde gekommen ist, nach Jahrzehnten der Bedeutungslosigkeit aber wieder einen Aufschwung erlebt, hat viel mit diesem Zusammengehen mit den Jungen Grünen zu tun.

Neue linke Koalitionen?

Auch wenn die Situationen keineswegs identisch sind, so ist doch das Timing für ein «KPÖ Plus Momentum» günstig: ein Jahr vor den Bundestagswahlen – und wenige Wochen vor dem Bundesparteitag der Linken, auf dem ein Erneuerungsprozess der kriselnden Partei in Gang gesetzt werden könnte. Eine, die mit dafür sorgen möchte, ist Ines Schwerdtner, die sehr gute Chancen hat, Kovorsitzende zu werden. Schwerdtner pflegt nicht nur zur KPÖ schon länger Kontakt, sondern auch zu Teilen der Grünen Jugend. Sarah-Lee Heinrich, Exbundessprecherin des grünen Jugendverbands und bekanntestes Gesicht der Ausgetretenen, und Schwerdtner kennen sich schon länger. Sie verfolge «mit grossem Interesse die Erneuerungsbewegung, die es in der Linkspartei gibt», erklärte Heinrich auf Nachfrage. Bewegt sich also endlich einmal etwas in der politischen Linken in Deutschland? Zumindest besteht die Chance, auch wenn das künftige Verhältnis von Linkspartei und den untreu gewordenen Grünen noch gänzlich ungeklärt ist.

Nach dem Kongress der Grünen Jugend vom 18. bis 20. Oktober in Leipzig wollen die Ausgetretenen die angekündigte Gründung einer neuen Jugendorganisation angehen. Ebenfalls am 20. Oktober wird die Linkspartei beim Parteitag in Halle ihre Weichen neu stellen. Dass beide Termine parallel stattfinden, ist Zufall. Doch dass sich an diversen Ecken und Enden der breiteren Linken etwas tut, wohl eher nicht: Nach Jahren des Wachstums der ultrarechten AfD und des linken Niedergangs fragen sich viele, wie das Ruder herumgerissen werden kann. Die Entscheidung, die Grünen zu verlassen, sei, so Sarah-Lee Heinrich, «vielleicht Teil einer grösseren Suchbewegung».