Bürgenstock-Gipfel: Die versteckte Botschaft
Wie steht es um die globale Solidarität mit der Ukraine? Die WOZ hat auf dem Bürgenstock den afrikanischen Staatschefs gelauscht.

«Die Menschen in Afrika lehren uns: Die Trommeln des Krieges sind die Trommeln des Hungers», sagt der kenianische Präsident William Ruto. Im Diamantendom, wie die zwei riesigen Tennishallen im Hotelresort auf dem Bürgenstock heissen, haben sich Staats- und Regierungschefs aus der halben Welt zum Schlussplenum versammelt. Ruto spricht am Sonntagmittag als einer der Ersten, soeben hat er die Sitzung zu den Folgen, die Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine für die Ernährungssicherheit auf der Welt zeitigt, mitgeleitet. Wie direkt die Auswirkungen einer globalisierten Welt in Kenia spürbar sind, beschreibt er so: «Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg gegen unsere Bauernhöfe, die Opfer dieses Konflikts gehen weit über Osteuropa hinaus und umfassen Millionen afrikanische Familien.»
Es gäbe viele erzählerische Pfade, um auf den Bürgenstock zu gelangen, zum grössten diplomatischen Gipfel, den die Schweiz je ausgerichtet hat. Man könnte zum Beispiel berichten, wie das Gastgeberland selbst Teil der Globalisierung geworden ist, von der Ruto spricht: In der Turnhalle von Obbürgen, wo vor Sprossenwänden die Zutrittsbadges ausgegeben werden, herrscht der vertraute Schweizer Mehrzweckhallenmief. Oben dann folgt der betörend-entrückte Blick über den Vierwaldstättersee, wobei sich die Hotelanlage mitsamt der Aussicht auf die Urschweiz ironischerweise längst im Besitz des katarischen Staatsfonds befindet. Das Aussendepartement, so heisst es, habe hart mit den Polizeibehörden kämpfen müssen, damit Journalist:innen überhaupt auf den Berg dürfen – wohl wissend, wie wichtig die Gipfelbilder sind, damit das Treffen weltweit wahrgenommen wird.
Es gäbe auch einiges zu erzählen über Wolodimir Selenski, den Mann mit der rauen Stimme und dem wachen Blick, der niemals müde zu werden scheint, internationale Unterstützung für die Ukraine zu mobilisieren. Und entsprechend eine förmliche Schimpftirade hält, als er bei der Pressekonferenz nach dem Gipfel von einer «20 Minuten»-Reporterin darauf hingewiesen wird, das westliche Publikum sei doch etwas kriegsmüde geworden angesichts steigender Lebenskosten und eines Kriegs ohne Gewinner. Selenski: «Bei uns in der Ukraine geht es nicht um Müdigkeit, sondern ums Überleben. Putin, dieser Nazi, will uns vernichten. Wenn jemand Ihre Wohnung betritt, mit Pistole oder Gewehr, was würden Sie dann tun? Ich kann Ihnen nur eines sagen: Putin wird es nicht bei der Ukraine belassen, und wenn er nicht gestoppt wird, dann denkt auch niemand in Europa mehr an Müdigkeit.»
Aber vielleicht lohnt es sich doch, weiter den afrikanischen Delegationen am Gipfel zu folgen. Denn unabhängig von Wirtschaftsmacht und Militärkraft: Wenn sie – und mit ihnen auch die lateinamerikanischen und die asiatischen Staaten – die Ukraine unterstützen, kann das diplomatische Pendel eher zu Kyjiws Gunsten ausschlagen.
Wie der Krieg auch Kenia trifft
Exakt hundert Staaten und internationale Organisationen sind der Einladung des Schweizer Bundesrats und der Ukraine zum Treffen gefolgt. Während am Samstag die Landungen der drei Chinook-Helikopter von US-Vizepräsidentin Kamala Harris die Liveticker dominieren, reisen aus den afrikanischen Staaten dreizehn Delegationen an: jene von Benin, der Elfenbeinküste, Gambia, Ghana, den Kapverden, Kenia, den Komoren, Liberia, Libyen, Mauretanien, Ruanda, Somalia sowie Südafrika. Die Teilnahme dieser Länder kam wenig überraschend: Praktisch alle haben auch die Uno-Resolution vom 2. März 2022 unterstützt, die Russlands Angriff auf die Ukraine verurteilt. Einzig Südafrika enthielt sich damals der Stimme, mit sechzehn weiteren afrikanischen Staaten. Dass es nun auf dem Bürgenstock mit dabei ist, wenn auch bloss mit einem Abgesandten, ist für die Schweizer Diplomatie ein Erfolg.
Um möglichst viele Staaten auf den Bürgenstock zu lotsen, soll am Gipfel über drei Punkte aus Selenskis «Friedensformel» gesprochen werden, die fast alle betreffen: die atomare Sicherheit, insbesondere der reibungslose Betrieb des derzeit von Russland besetzten AKWs Saporischschja; humanitäre Aspekte wie der Austausch von Kriegsgefangenen und die Rückkehr der geschätzt rund 20 000 von Russland verschleppten Kinder; schliesslich die Ernährungssicherheit, also die Lieferungen von Getreide und Dünger aus der Ukraine sowie aus Russland. Gerade für die afrikanischen Staaten ist Letztgenanntes von grosser Bedeutung.
Wer einen Blick auf die Zahlen wirft, kann erahnen, welch fatalen Einfluss Russlands Krieg gegen die Ukraine auf die Ernährungssicherheit hat. Rund ein Drittel der globalen Weizenexporte stammen aus der Schwarzmeerregion, der Boden in der Ukraine ist einer der fruchtbarsten weltweit. Laut dem Welternährungsprogramm der Uno haben ukrainische Exporte vor dem Krieg rund 400 Millionen Menschen ernährt. Die Uno schätzt, dass wegen des Kriegs noch im Jahr 2030 weltweit Millionen chronisch unterernährt sein werden.

Nachdem Russland in den ersten Monaten des Angriffskriegs die ukrainischen Schwarzmeerhäfen blockiert hatte, wurde der Getreideexport rasch zum Thema in ersten Verhandlungen: Im Sommer 2022 einigten sich die Parteien in Istanbul auf ein Abkommen, das die gesicherte Öffnung der Häfen vorsah. Am Bosporus entstand daraufhin ein Kontrollzentrum, in dem Vertreter:innen Russlands, der Ukraine, der Türkei und der Uno die Exporte koordinierten. Dreimal wurde das Abkommen verlängert, bis Russland es im Juli 2023 auslaufen liess. Nun, da die Situation wieder ungeklärt ist, bringt die Bürgenstock-Konferenz die nötige Aufmerksamkeit.
«Die Blockade im Schwarzen Meer hat zu einem starken Anstieg der Lebensmittelpreise geführt. Es besteht eine grosse Gefahr von Hunger und Unterernährung, gerade bei den vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen», warnt der ghanaische Präsident Nana Akufo-Addo im Eröffnungsplenum. Sein Amtskollege Ruto ergänzt: «Ein Bauer im ländlichen Kenia weiss ganz genau, dass in der Ukraine Krieg herrscht, weil die Kosten für Düngemittel gestiegen sind. Wegen der geänderten Schifffahrtswege dauert es jetzt 45 Tage länger, bis die Lieferungen unseren Hafen erreichen.» Wobei nicht nur der Angriff auf die Ukraine die Situation belaste. Hinzu kämen die Kriege in Afrika selbst, besonders jener im Sudan (vgl. «Hungern, wo die Waffen schweigen»): «Vier von zehn Ländern in der Region sind von akuter Ernährungsunsicherheit bedroht.» Zu den sich «gegenseitig verstärkenden Katastrophen» zählt Ruto auch die Klimaerwärmung, mit der für Kenia schlimmsten jemals aufgezeichneten Dürre.
Solidarität und Eigennutz
Auch wenn die Medien Zutritt zum Bürgenstock haben: Fern der Pressekonferenzen sind Gespräche mit den Delegationen schwierig bis unmöglich. Diese halten sich in einer streng abgeschirmten Zone auf, die Plenen werden nur am Bildschirm übertragen. Auch die Anfragen der WOZ an mehrere afrikanische Staaten laufen ins Leere: Die Delegation aus Somalia hat keine Zeit, zu eng sind ihre bilateralen Gespräche getaktet. Auch aus Benin will sich niemand äussern, man sei nur auf Ministerebene vertreten. Bei Kenia geben immerhin zwei Pressebeauftragte des Präsidenten Auskunft.
Sie führen aus, dass die Knappheit bei den Getreidelieferungen auch innenpolitische Folgen haben könne: «Höhere Preise führen zu sozialen Unruhen und damit zu politischer Instabilität.» Das sei selbstverständlich nicht im Interesse der Regierung. Die beiden dürften wissen, wovon sie sprechen: Präsident Ruto, studierter Botaniker und Besitzer einer riesigen Hühnerfarm, hatte seine erfolgreiche Wahlkampagne im Sommer 2022 selbst auf die steigenden Lebenskosten der hart arbeitenden Bevölkerung ausgerichtet. Nach dem Angriff auf die Ukraine überschlug sich in Kenia die Inflation. Wenn der neu gewählte Präsident nun in der Schweiz für reibungslose Lieferketten plädiert, tut er das durchaus im Interesse des eigenen Machterhalts – und wohl auch für die eigene Farm.
Wie aber steht es um die Solidarität der afrikanischen Staaten fernab ihrer Eigeninteressen? Das Ziel von Selenskis Regierung am Gipfeltreffen ist klar: Sie möchte möglichst viel diplomatische Unterstützung für das eigene Land mobilisieren (siehe WOZ Nr. 24/24). Nachdem Russland selbst der Konferenz eine Absage erteilt hatte, erfolgte seitens der Schweiz auch keine Einladung. Wie stark das Treffen Wladimir Putins Regime dennoch beunruhigt, zeigt das «Friedensangebot», das er kurz vor der Konferenz präsentierte und das eine Abtrennung grosser Gebiete im Osten und Süden der Ukraine bedeuten würde. Dieses Angebot wird zwar von allen Teilnehmer:innen scharf verurteilt. Doch weisen gerade die afrikanischen Staatschefs in ihren Voten darauf hin, dass sie eigentliche Verhandlungen über einen Frieden vorgezogen hätten: «Ghana bedauert die Abwesenheit von Russland und China», sagt stellvertretend Präsident Akufo-Addo.
Der militärische Einfluss von Russland auf dem afrikanischen Kontinent mag für die Positionierung einzelner Staaten zum Krieg gegen die Ukraine eine Rolle spielen. Vor allem aber, das zeigt sich im Gespräch mit den kenianischen Präsidentenberatern, möchten sich viele Staaten eine maximale Eigenständigkeit bewahren: «Wir sind nicht für den Westen, wir sind nicht für den Osten, wir sind für den Fortschritt», sagen sie selbstbewusst. Wolle man in Europa die afrikanische Position verstehen, müsse man sich in den Kopf eines einfachen kenianischen Dorfbewohners versetzen: «Er braucht sein tägliches Essen zum Überleben. Woher das Getreide geliefert wird, interessiert ihn am Ende herzlich wenig.»
Diesem praktischen Sinn entspricht auch das Bürgenstock-Communiqué, das zum Schluss der Konferenz verabschiedet wird. Nach der Verurteilung der russischen Kriegsführung widmet es der Ernährungssicherheit einen eigenen Abschnitt: Die kommerzielle Schifffahrt müsse frei und sicher erfolgen können, die Häfen im Schwarzen und im Asowschen Meer müssten offen und zugänglich sein, von Attacken auf Handelsschiffe und auf zivile Häfen und Infrastrukturen sei abzusehen. «In keiner Weise darf die Ernährungssicherheit zu einer Waffe werden.» Das Communiqué wird von 82 Delegationen unterzeichnet – von den afrikanischen Staaten fehlen allerdings Libyen, Ruanda und Südafrika.
Nach den Imperien
Das entspricht durchaus dem Gesamteindruck, den dieser Gipfel hinterlässt. In einem für die Ukraine militärisch schwierigen Moment festigt er zwar nochmals die internationale Unterstützung – weitergehende Fortschritte werden aber keine erzielt. Dass die Solidarität zudem nur auf Zeit besteht, betont am Ende der Konferenz der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis, der an den Gesprächen zur Ernährungssicherheit teilgenommen hat: «Einige Staaten pochten vor allem auf einen schnellen, nicht aber auf einen gerechten Frieden.» Ein solcher würde sich an der Uno-Charta orientieren und damit auch die territoriale Integrität der Ukraine wahren.
Gleichzeitig zählen an diesem Treffen auf dem Bürgenstock am Ende die symbolischen Inszenierungen mindestens so viel wie die konkreten Beschlüsse. Dazu gehört die Abschlusspressekonferenz, an der aus Afrika Ghanas Präsident Akufo-Addo und aus Lateinamerika der chilenische Präsident Gabriel Boric teilnehmen. Boric, der frühere linke Student:innenanführer und mit 38 Jahren einer der jüngsten Staatspräsidenten am Gipfel, meint: «Es geht hier nicht um die Nato. Nicht um links und rechts, Nord oder Süd. Es geht um die Einhaltung des internationalen Rechts, der Menschenrechte. Ob in der Ukraine, in Gaza, in anderen Konflikten.» Gespannt blickt Boric danach hinüber zu Akufo-Addo, der mit seinen achtzig Jahren gut doppelt so alt ist wie er. «Wir haben den Kolonialismus erfahren, den Imperialismus, die Apartheid», sagt der Ghanaer. «In diesem Kontext sehen wir auch die russische Aggression gegen die Ukraine. Eine Lösung für diesen Krieg kann nur auf der Uno-Charta aufbauen.»
Bestimmt, die Teilnahme grosser Player wie China oder Brasilien, das bloss beobachtend zugegen war, hätte das Gipfeltreffen richtig wichtig gemacht. Gewiss, die Solidarität mit der Ukraine, gerade auch aus Afrika, mag brüchig erscheinen. Aber vielleicht – und dafür steht das Abschlussbild mit dem jungen Boric, dem alten Akufo-Addo und dem immerwachen Selenski dazwischen – ist die versteckte Botschaft vom Bürgenstock doch eine andere: dass die Zukunft nicht zwingend den Grossmächten mit ihren alten imperialen Fantasien gehören muss. Sondern auch von jenen Staaten geprägt werden kann, die um die Verflochtenheit der heutigen Welt wissen.
Kommentare
Kommentar von steinertoni
Fr., 21.06.2024 - 10:31
Vielen Dank für diesen Beitrag, der sehr gut die globale Auswirkung des Ukraine-Kriegs aufzeigt. Die Initiative der Schweiz für diese Veranstaltung auf dem Bürgenstock hat sich m.E. dadurch gelohnt.