Spardebatte: «Dabei schwimmt das Land im Geld»

Nr. 37 –

Sparen, sparen, sparen: Die von Finanzministerin Karin Keller-Sutter eingesetzte Expert:innengruppe kennt nur ein Dogma. Damit verkennt sie, dass die Schweiz enorm viel Spielraum für Investitionen hat.

Fotomontage: Helvetia auf einer Münze hält zwei Scheren in den Händen
Montage: WOZ

Über sechzig Sparmassnahmen schlägt die Expert:innengruppe vor, die Finanzministerin Karin Keller-Sutter eingesetzt hat. Um fünf Milliarden Franken will sie das Budget bis 2030 «bereinigen». Allein im Asylwesen will die Gruppe, die ihre Vorschläge letzte Woche der Öffentlichkeit präsentiert hat, 500 Millionen einsparen, mittels Kürzung der Integrationspauschalen. Der Bundesanteil an die Kitafinanzierung? Für die Gruppe ein weiteres Sparpotenzial von 896 Millionen Franken (vgl. «Kinder haben null Priorität»). Die Ausgaben für die internationale Entwicklungszusammenarbeit sollen nach dem Willen der Expert:innen bis 2030 eingefroren werden. Sparpotenzial: weitere 313 Millionen Franken.

Diese und weitere konkrete Sparvorschläge wurden von den Medien teilweise kritisch unter die Lupe genommen. Was erstaunlicherweise kaum hinterfragt wird: die einmal mehr in den Raum gestellte Behauptung, dass der Bund zum Sparen gezwungen sei.

Die Staatsfinanzen aus dem Lot? Einer genauen Betrachtung hält diese Behauptung nicht stand. Sie ist vielmehr Ausdruck einer zunehmenden Diskursverengung in Bundesbern, wo unter der Federführung von Finanzministerin Karin Keller-Sutter die neoliberale Spardoktrin kaum mehr angezweifelt wird.

Geliefert, was bestellt war

Um die Dynamik hinter den Sparvorschlägen zu verstehen, muss man wissen: Die Expert:innengruppe hat geliefert, was bestellt war. Das Finanzdepartement hat der Gruppe nicht den Auftrag gegeben, ergebnisoffen zu prüfen, wie der Bund dringliche Projekte wie etwa die Bekämpfung der Klimakrise oder den Ausbau der Betreuungsstrukturen am besten finanzieren könnte. Vielmehr lautete das klare Mandat: Die Gruppe müsse dem Bundesrat in erster Linie ausgabenseitige Massnahmen vorschlagen – und die Konsolidierung des Haushalts unter Einhaltung der strengen Schweizer Version der Schuldenbremse einleiten.

Dass der Bund bei den Finanzen überhaupt Handlungsbedarf sieht, liegt einerseits an der vom Bundesrat und von der rechten Parlamentsmehrheit beschlossenen Hochrüstung der Armee. Und andererseits an ebendem Instrument, das von Keller-Sutter und ihren politischen Weggefährt:innen zum Allheilmittel erklärt wird: der Schuldenbremse. Die Schweizer Stimmbevölkerung hat im Jahr 2001 mit grosser Mehrheit der Einführung einer solchen Bremse zugestimmt. Der Verfassungsartikel, der seither zum Sparen anhält, lautet: «Der Bund hält seine Einnahmen und Ausgaben auf Dauer im Gleichgewicht.» Dieser vage Grundsatz wird vom Bund auf ausserordentlich rigide Weise umgesetzt: Der Staat darf über einen Konjunkturzyklus hinweg (bereinigt durch einen Konjunkturfaktor) nicht mehr ausgeben, als er einnimmt. Und er muss Rechnungsüberschüsse komplett in den Schuldenabbau stecken. Heisst: Wenn der Bund mehr Geld einnimmt oder weniger ausgibt, als er budgetiert hat – was beides mit grosser Regelmässigkeit vorkommt –, darf er dieses Geld nicht in staatliche Projekte reinvestieren.

Mit diesem Vorgehen hat der Bund seine Schuldenquote in den letzten zwanzig Jahren von rund 46 auf heute 17 Prozent des Bruttosozialprodukts (BIP) gesenkt. Eine rekordtiefe Quote: In den Ländern des EU-Raums liegt die durchschnittliche Verschuldung derzeit bei 82,9 Prozent des BIP. Ein Fakt, der von den Wirtschaftsliberalen gefeiert wird – von Ökonom:innen unterschiedlichster Prägung hingegen wird er scharf kritisiert.

4,5 Milliarden Franken Überschüsse

Linke Ökonom:innen stellen seit jeher die einseitige Fokussierung auf Schulden infrage. So sagt der Gewerkschaftsökonom Daniel Lampart: «Wenn jemand ein Haus im Wert von 1,5 Millionen Franken kauft und dafür eine Hypothek in der Höhe von 500 000 Franken aufnimmt, käme niemand auf die Idee, er habe finanzielle Probleme.» Die Schweiz könne sich Schulden problemlos leisten. «Zum Problem werden solche erst, wenn eine Volkswirtschaft nicht mehr zahlungs- und kreditfähig ist», sagt Lampart und weist darauf hin, dass der Zwang zum Schuldenabbau «absurde» Folgen habe. Die Bürgerlichen hätten die Schuldenbremse mit dem Ziel eingeführt, den Staat kleinzuhalten. Nun sorge das Instrument jedoch dafür, dass der Staat das Geld seiner Bürger:innen auffresse. «Wenn ein Staat Steuern einzieht, ohne diese ins Gemeinwohl zu investieren, stiehlt er damit den Privaten de facto das Geld.» Er frage die Bürgerlichen deshalb gerne: «Wollt ihr tatsächlich eine solche schleichende Verstaatlichung auf Kosten der Privaten?»

Wie der Bund kennen auch die meisten Kantone eine Schuldenbremse, viele budgetieren regelmässig zu vorsichtig – und weisen am Ende Gewinne aus, die nicht in staatliche Infrastruktur fliessen, sondern zur Reserve werden. Ende 2022 wiesen alle Kantone zusammen rund 4,5 Milliarden Franken Überschüsse aus. «Das Land schwimmt im Geld», sagt Lampart.

2021 fragten die NZZ und die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH 167 Wirtschaftswissenschaftler:innen, ob die Schweiz ihre Coronaschulden unter strikter Anwendung der Schuldenbremse zurückzahlen solle. Fast alle Befragten plädierten dagegen. Die Umfrage zeigt, dass das Konzept der schwarzen Null innerhalb der Ökonom:innengilde weitgehend ausgedient hat – und das Gros zumindest eine Lockerung der Schuldenbremse befürwortet. Marius Brülhart, Wirtschaftsprofessor an der Universität Lausanne, sagt: «Eine schwarze Null ginge ja noch, aber die Ausgestaltung unserer Schuldenbremsen zwingt uns im Schnitt zu einer schwarzen Milliarde. Mit der Verwendung der Rechnungsüberschüsse liesse sich ein Teil der drohenden Defizite gegenfinanzieren.» Auch mit anfallenden Zinsen lasse sich schwerlich für eine so rigide Umsetzung der Schuldenbremse argumentieren: «Schweizer Staatsanleihen sind so begehrt, dass der Bund so günstig Geld aufnehmen kann wie kein anderes Land der Welt. Das sollte man bei der Abwägung zwischen verschiedenen Budgetbereinigungsmassnahmen nicht vergessen.»

Und die Steuern?

Auch Cédric Tille, Wirtschaftsprofessor an der Universität Genf, hält die Schuldenbremse für «zu restriktiv». Tille, der bis 2023 im Bankrat der Schweizerischen Nationalbank sass, schlägt vor, die Schulden bei einer Quote des BIP zu stabilisieren, «die von der Politik festgesetzt werden könnte», statt sie immer weiter abzubauen. Damit würde man seiner Ansicht nach der Verfassung gerecht. «Und notfalls braucht es halt noch einmal eine Abstimmung.»

Neben einer Reform der Schuldenbremse gibt es freilich einen zweiten Hebel, mit dem sich der Bundesrat mehr Spielraum schaffen würde: Steuerreformen. Tille sagt, natürlich könne man Ökonom:innen den Auftrag erteilen, die Staatsausgaben auf mehr Effizienz zu trimmen, «doch dann führt man nur einen Teil der Debatte. Wir müssen breit darüber reden, wie gross der Staat sein soll, welche Investitionen wir wollen und wie wir sie finanzieren.»

Eine Debatte, wie sie die Mehrheit in Bern nicht führen will. Nur die SP meldete sich nach der Medienkonferenz der Expert:innengruppe mit einem «Zukunftspapier». Neben der Verwendung der Rechnungsüberschüsse und einer Schuldenbremsereform im Sinne von Tille (zusätzlicher Handlungsspielraum: rund 4,5 Milliarden Franken) schlägt die Partei darin etwa eine kleine Bundesvermögenssteuer oder die Aufhebung der privilegierten Dividendenbesteuerung für Konzerne vor. Dazu will die SP den Bundesanteil der OECD-Steuerreform erhöhen und die Militärausgaben um eine Milliarde Franken drosseln. Es sei ein sehr pragmatisches Papier, sagt die Basler SP-Finanzpolitikerin Sarah Wyss. So verzichtete die Partei etwa auf die Forderung einer Erbschaftssteuer, wie sie die Juso mit ihrer Initiative verlangt: «Wir haben uns auf Forderungen beschränkt, die wir für realistisch und bezifferter halten.» Das vom Bund prognostizierte Defizit würde mit der Umsetzung des Papiers trotzdem verschwinden.

Sparbericht : Ideologische Grüsse aus Luzern

Ganz so begeistert wie Serge Gaillard, der Kopf der bundesrätlichen Spartruppe, schien Christoph Schaltegger vom ausufernden Kürzungskatalog, den das Gremium letzte Woche präsentierte, nicht zu sein. Und wenn doch, konnte er seine Freude an der Pressekonferenz offenbar gut hinter einer ausdruckslosen Miene verstecken. Dabei atmet der detailreiche Bericht mit seinen diversen Anhängen ganz den libertären Geist von Schalteggers Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) (siehe WOZ Nr. 35/24).

Herunterbrechen lassen sich die vorgeschlagenen Massnahmen auf folgende Formel: Je weniger der Staat für die Belange seiner Bürger:innen aufkommt, je weniger er die Reichen zur Kasse bittet, desto besser. So muss auch die Schuldenbremse – «direktdemokratisch, strikt, transparent, verbindlich und föderalismusschonend» (Schaltegger in der FAZ) – gar nicht erst infrage gestellt werden. Vielmehr sei diese «eine zentrale finanzpolitische Errungenschaft», heisst es im Bericht.

Auch ein Blick auf die einzelnen Empfehlungen zeigt, wes Geistes Kind das Papier der «Gruppe Gaillard» ist. Ein Dorn im Auge sind den Expert:innen etwa die «Personal- und Eigenausgaben» – ein Thema, mit dem sich auch das IWP immer wieder gern befasst. Die (wenig überraschende) Erkenntnis aus einer seiner «Studien»: Die Löhne in der Verwaltung seien deutlich höher als jene in der Privatwirtschaft – und sowieso viel zu hoch. Auch einer Kitafinanzierung durch den Bund erteilen die mandatierten Sparfüchse eine klare Absage. Ganz ähnlich, wie das auch schon diverse Personen aus dem IWP-Umfeld getan haben: Krippensubventionen würden «nicht viel bringen», sagte etwa die Ökonomin Margit Osterlohn in einem auf der IWP-Website aufgeschalteten Interview.

Schliesslich wäre da noch das Ampelsystem, mit dem die Gruppe Gaillard die einzelnen Kredite und Ausgaben bewertet: Rot steht für «substanzielles Entlastungspotenzial», Grün bedeutet «kein Handlungsbedarf». Mit einem ähnlichen Schema ist auch der «Subventionsreport» des IWP versehen: Grün für gute, also «wohlfahrtsmehrende» Subventionen, Rot für «wohlfahrtsmindernde». In Ökonom:innenkreisen sorgte der Bericht für harsche Kritik.

Auf begeisterte Zustimmung stösst der Sparplan dort, wo man schon immer besonders empfänglich für die Ideen der Luzerner Ideologiemaschine war: In der NZZ. Als «Pakt mit dem Volk» gegen «ausgabefreudige Politiker» beschreibt Chefökonom Peter A. Fischer im samstäglichen Leitartikel die Schuldenbremse. Und resümiert: «Nehmt euch in acht! Diese Sparvorschläge sind keine Zumutung, sondern eine willkommene Fitnesskur.» Die soziale Schweiz kaputtsparen: Grösser könnte die liberale Euphorie darüber nicht sein.