Stichwahl in Frankreich: Triangel der Tristesse
Ob die Rechtsextremen auch im zweiten Wahlgang erfolgreich sein werden, liegt vor allem bei den Macronist:innen. Die aber haben bisher lieber die Linke dämonisiert. Beispielhaft für die vertrackte Ausgangslage steht Besançon.
Wer, wie, mit wem? Dreiecksbeziehungen sind auch in der Politik kompliziert, und Frankreich durchlebt derzeit eine besonders toxische. Je nachdem, wie sich die extreme Rechte, die liberale bis rechte Mitte und die Linke zueinander verhalten, könnte das Land bald von der ersten rechtsextremen Regierung seit dem Vichy-Regime geführt werden.
In der Hauptstadt und ihrer Umgebung wird das Rassemblement National (RN) keine Sitze gewinnen. Der Osten von Paris wählt links – dort haben mehrere Vertreter:innen des Nouveau Front populaire schon im ersten Wahlgang den Einzug ins Parlament geschafft. Und im Westen zeichnen sich mehrere Duelle zwischen Macronist:innen und Linken ab. Die Metropolregion aber ist umgeben von einem grossen braunen Meer: von weitläufigen, weniger dicht besiedelten Wahlkreisen, in denen das RN am vergangenen Sonntag stärkste Kraft wurde.
Insgesamt 76 Abgeordneten gelang die Wahl schon im ersten Durchlauf. Am Sonntag entscheidet sich, wie die restlichen 577 Parlamentssitze verteilt werden; dann genügt den Kandidat:innen eine relative Mehrheit der Stimmen, um gewählt zu werden. Die wichtigste Frage: Wird die «Brandmauer» gegen Rechts halten?
«Ce sont des fachos»
Schnittige Kurzhaarfrisuren und Cargohosen: Besançon hat ein Problem mit Rechtsextremen, und diese treffen sich unter anderem im Pub de l’étoile. Drinnen läuft Fussball, draussen sitzen vierschrötige Typen und schauen argwöhnisch. Der Passant, der die Empfehlung gegeben hatte, man solle sich die Übertragung der Wahlergebnisse dort anschauen, riet auch dazu, besser zu schweigen, wenn das Ergebnis bekannt gemacht wird: «Ce sont des fachos.» Er selbst wähle schon immer die Linke, sagt er und zeigt stolz seinen Wahlschein.
Besançon, nahe der Grenze zur Schweiz und zu Deutschland gelegen, dürfte manchen noch als Schauplatz der Selbstorganisation in der Fabrik des Uhrenherstellers Lip in den siebziger Jahren ein Begriff sein. Es ist die Hauptstadt des Département Doubs. Von den insgesamt fünf Wahlkreisen der Region entfallen zwei auf Stadt und Umgebung. Und die Ausgangslage nach dem ersten Wahlgang ist beispielhaft für die Unsicherheiten und Schwierigkeiten, die sich auch in anderen Teilen des Landes stellen. Die beiden Wahlkreise wurden bis anhin durch Abgeordnete von Macrons Wahlbündnis Ensemble vertreten. Und jetzt, da der Macronismus für tot befunden wurde?
In den beiden Kreisen von Besançon haben sich je drei Kandidat:innen qualifiziert. Im ersten liegt der Macron-Kandidat Laurent Croizier knapp an erster Stelle – vor Séverine Véziès von der linken Partei La France insoumise und dem Rechten Thomas Lutz. Dieser sorgte kürzlich für Aufsehen, als er im Regionalparlament einen Gegner auf Deutsch als «Untermensch» beleidigte. Erst- und Drittplatzierten trennen bloss 2,3 Prozentpunkte. Im zweiten Wahlkreis landete die Grüne Dominique Voynet auf Platz eins – vor dem RN-Vertreter Éric Fusis. Benoît Vuillemin, der Kandidat von Macrons Partei Renaissance, erzielte das drittbeste Ergebnis.
2022, bei der letzten Wahl, gab es solche Konstellationen nach dem ersten Urnengang in bloss acht Kreisen. Diesmal haben sich in insgesamt 306 Wahlkreisen mindestens drei Kandidat:innen für die zweite Runde qualifiziert. Das liegt vor allem an der hohen Wahlbeteiligung von 65,8 Prozent – fast 20 Prozentpunkte mehr als vor zwei Jahren. Für den zweiten Wahlgang qualifizieren sich jeweils alle Kandidat:innen, die in der ersten Runde 12,5 Prozent der Stimmen aller registrierten Wähler:innen erzielt haben; weil so viele von diesen an die Urne gingen, passierten auch viel mehr Drittplatzierte diese Hürde.
Noch am Sonntagabend kündigte die Linke an, dass sich ihre drittplatzierten Kandidat:innen zurückziehen würden, um so Sitzgewinne des RN zu verhindern. Macrons Wahlbündnis tat sich mit einem solchen Entscheid deutlich schwerer. Sein Premier, Gabriel Attal, rief zwar ebenfalls die Drittplatzierten zum Rückzug auf – aber nur zugunsten von Gegner:innen mit «republikanischen Werten». Die Spitze richtet sich gegen La France insoumise. Die Macronist:innen hatten ihren Wahlkampf auf der Hufeisentheorie aufgebaut: Immer wieder warnten sie vor der Bedrohung, die von «beiden politischen Polen» ausgehe.
Kürzlich kursierte in den Lokalmedien im Département Doubs die Meldung, dass eine linke Aktivistin beim Plakatieren für den Nouveau Front populaire angegriffen worden sei. Im Pub de l’étoile treffen sich gemäss einer regionalen antifaschistischen Plattform regelmässig Rechtsextreme; es sei dort auch schon zu Angriffen auf Linke gekommen. Am Wahlsonntag bleibt es im Pub ruhig. England hat gerade ein Tor geschossen. Verlängerung – die Übertragung der Wahlergebnisse muss warten. Fussball interessiere die Leute eben mehr als die Wahlen, sagt die Barkeeperin.
Überhaupt ist in Besançon wenig zu spüren vom viel beschworenen historischen Gewicht dieses Sonntags. Es gibt keine Veranstaltungen, keine Demonstrationen und keine brennenden Container wie in Paris. Sie verstehe nicht, wieso alle so Angst vor dem RN hätten, sagt eine ältere Wirtin. Ohne preisgeben zu wollen, wen sie selbst gewählt hat.
Im Fluss
Im zweiten Wahlkreis von Besançon zögert der Drittplatzierte, Renaissance-Kandidat Benoît Vuillemin, sich zurückzuziehen, obwohl er fast sieben Prozentpunkte hinter der erstplatzierten Grünen Dominique Voynet liegt. «Diese Frage stellt sich, aber ich werde sie nicht hier beantworten», sagt Vuillemin am Montag im Regionalfernsehen. Er kalkuliert wohl, dass die Stimmen der Mittepartei der Republikaner an ihn gehen könnten.
Während die Bürgerlichen hadern, ist der Linken die Situation vertraut: Auf nationaler Ebene ist sie seit Jahren dazu verdammt, das kleinere Übel zu wählen – und wurde dazu jeweils auch von Macron und seiner Gefolgschaft aufgerufen. Deren jetziges Zaudern ist für viele ein Affront. Immerhin: 83 Kandidat:innen von Ensemble haben sich bis Dienstagabend zugunsten eines «front républicain» gegen das RN zurückgezogen.
Letztlich sind es aber nicht die Kader, die die Wahlen entscheiden, sondern die Wähler:innen. Die Historikerin Zoé Kergomard forscht an der Universität Zürich zur politischen Geschichte Frankreichs: «Indem die meisten Medien sowie konservative und macronistische Politiker:innen die Linke mit der extremen Rechten gleichsetzen, haben sie sie dämonisiert», sagt sie, «und damit eine weitreichende Normalisierung des RN bewirkt.»
In manchen Wahlkreisen ist deshalb fraglich, ob es wirklich von Vorteil für die Linke ist, wenn sich die Bürgerlichen zurückziehen. Ob sich deren Wähler:innen nach all den Angriffen auf den Nouveau Front populaire jetzt noch für diesen entscheiden werden, ist ungewiss. 2022 standen nach dem ersten Durchgang in beiden Wahlbezirken von Besançon die Linken an der Spitze. In den folgenden Duellen gewannen aber die Macronist:innen – dank der Wähler:innen des RN. Dass die Stimmen heuer in die entgegengesetzte Richtung fliessen könnten, ist möglich. Wie viel ist nach sieben Jahren, in denen Macron stetig weiter nach rechts gerückt ist, von der viel beschworenen republikanischen Front noch übrig?
Eines der Wahllokale von Besançon befindet sich im Kursaal im historischen Stadtkern. Trotz des strömenden Regens sind schon kurz nach Eröffnung Dutzende Wähler:innen hier. Eine 71-jährige Pensionärin will zwar nicht sagen, wen sie gewählt hat – das sei eine sehr persönliche Entscheidung –, aber sie könne so viel mitteilen: Sie habe die Demokratie gewählt. Und dann verschwindet sie im Regen.
Nach fast zwei Tagen Bedenkzeit, während derer er kaum geschlafen habe, wie er sagt, kündigt Benoît Vuillemin am Dienstagnachmittag schliesslich an, sich zugunsten der führenden linken Kandidatin Dominique Voynet zurückzuziehen. Die Republikaner, auf deren Stimmen er gehofft hatte, konnten sich bis dahin nicht dazu durchringen, ihn als Kandidaten gegen das RN zu empfehlen. Im ersten Wahlkreis hingegen werden alle drei qualifizierten Kandidat:innen erneut antreten. Alle drei haben reelle Chancen auf einen Sieg.