Naturgefahren: Wir brauchen die Alpen

Nr. 28 –

Einmal mehr diskutiert die Schweiz, ob sich der Schutz vor Naturgefahren in entlegenen Alpentälern noch lohnt. Wäre Verwilderung die bessere Option?

Die Debatte ist wieder da: Soll die Schweiz einen Teil ihrer Alpentäler aufgeben? Sollen sich die Menschen zurückziehen aus Gebieten, die schon immer durch Steinschlag, Hochwasser und Murgänge gefährdet waren und es heute, mit den Wetterextremen der Klimaerhitzung, mehr denn je sind? Wird der Schutz vor Naturgefahren zu teuer?

Vor bald zwei Jahrzehnten stritt die Schweiz schon einmal über diese Fragen. Anlass war damals das «städtebauliche Porträt», das ein Geograf und vier Architekten, darunter Jacques Herzog und Pierre de Meuron, veröffentlicht hatten: eine Analyse der ungleichen Entwicklung in diesem Land, zwischen Wirtschaftszentren wie Zürich und Genf auf der einen und der (von den Autoren so genannten) «alpinen Brache» rund um den Gotthard auf der anderen Seite. Interessant ist, was darin fehlt: Die materiellen Grundlagen der Wirtschaft werden genauso wenig thematisiert wie deren ökologische und soziale Schäden.

Als «dynamisch» gilt, was rentiert, die globalen Lieferketten funktionieren reibungslos, das Klima ist kein Thema, die Ausbeutung von Menschen in ärmeren Ländern auch nicht. Dass ihnen diese ohnehin ziemlich egal ist, solange sie ihre Prestigebauten planen können, haben Herzog und de Meuron in der Zwischenzeit klar gezeigt (siehe WOZ Nr. 46/23).

Das Werk war typisch für die nuller Jahre: Die Wirtschaft schien rein virtuell geworden zu sein, die letzten dreckigen Industrien waren ausgelagert. Die Landwirtschaft ist in «Die Schweiz. Ein städtebauliches Porträt» kein ernst zu nehmender Teil der Produktion, sondern ein reiner Kostenfaktor. Viele Linke waren angetan von den Thesen der fünf Männer, Linksliberale sowieso. Das Versprechen von mehr Urbanität passte ins Weltbild, genauso die Verachtung des Agrarischen. Berggebietsvertreter:innen hingegen kritisierten die Idee der «alpinen Brache».

Wegen der Verwüstungen dieses Sommers im Wallis, im Tessin und im Misox fordert Avenir Suisse nun, man müsse «Siedlungen aufgeben» – und hat eine Debatte in der NZZ und weiteren Zeitungen ausgelöst. Es gibt im Alpenraum tatsächlich Häuser, die man am besten aufgibt, insbesondere solche, die in den Boomjahren der Nachkriegszeit wider besseres Wissen in Gefahrenzonen gebaut wurden. Doch wer glaubt, mit der «Schliessung» von Alpentälern den immer drastischeren Folgen der Wetterextreme entkommen zu können, täuscht sich. Gerade bei Hochwasserereignissen hat das, was im Hochgebirge passiert, oft Folgen bis ins Flachland; es ist auch aus Sicherheitsgründen unabdingbar, dass in den Bergen noch Menschen leben, die den Raum kennen und beobachten. Die Idee, man könne Bergtäler brachliegen lassen und bei Bedarf neu erschliessen, ist eine Illusion: Solche Gebiete bleiben nur dank dauernder bäuerlicher und forstwirtschaftlicher Pflege bewohnbar. Die natürlichen Dynamiken bei einer vollständigen Entsiedlung machen eine Neuerschliessung unvorstellbar aufwendig.

«Die Alpen halten in diesem stark von Städten geprägten Europa das Wissen offen, dass man mit der Natur nicht technisch umgehen kann» – die Analyse des Alpenspezialisten Werner Bätzing (siehe WOZ Nr. 3/06) stimmt immer noch. Die Coronapandemie hat gezeigt, wie verletzlich die globalen Lieferketten sind. Trotz dieser Erfahrung und der alarmierenden Klimaprognosen gibt es kaum eine Auseinandersetzung darüber, wie tiefgreifend sich der Alltag in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich verändern wird. In Zeiten globaler Verteilungskämpfe hat die Schweiz eine Verantwortung dafür, ihre eigenen materiellen und ideellen Ressourcen – von Holz über Agrarland bis zum Erfahrungswissen über Allmende – sorgfältig zu nutzen, statt alles zu importieren. Auch dafür braucht sie die Alpen.

Zudem hat die Coronapandemie ein neues Interesse am Berggebiet geweckt. Unter den heutigen Bedingungen führt das leider vor allem zu Konkurrenzkämpfen um Immobilien. Dabei wären die Kontakte zwischen Tal und Berg eine einmalige Chance, ins Gespräch zu kommen. Und interessantere Ideen für das Berggebiet zu entwickeln als jene der «alpinen Brache».