Auf allen Kanälen: Fauliger Abgesang

Nr. 29 –

Ideologisches Kapital schlagen aus dem beschworenen Untergang: Wie Christen und Rechte in der NZZ das Ende «des Westens» beklagen.

Stilisierter Screenshot eines NZZ-Artikels

Ist es schon ein Echo aus dem diesjährigen Sommerloch? Die NZZ besingt wieder laut und vielstimmig den Niedergang des Abendlands. Dieses ist seit vielen Jahren im Sinkflug, aufmerksame Leser:innen können selber ein Lied davon singen. Früher hiessen die Feinde «Sozialismus», «political correctness» und «linker (Medien-)Mainstream». Heute machen «dem Westen» der «Wokeismus», der Postkolonialismus, der Islam, vor allem aber ein offenbar sehr effizienter «Selbsthass» zu schaffen.

Oder mit den Worten des Tessiner Financiers Tito Tettamanti: «Die gegenwärtige Krise ist besonders gefährlich, weil sie nicht von aussen, sondern aus dem Inneren der westlichen Zivilisation selbst kommt.» Der 93-Jährige muss es wissen, subventionierte er doch mit seinem geschätzten Vermögen von 950 Millionen Franken ein Leben lang allerlei rechte bis extrem rechte Umtriebe, namentlich in der Schweizer Medienlandschaft. Auf seine Kosten gehen etwa die rechte Talfahrt bei «Basler Zeitung» und «Weltwoche».

In der NZZ behauptet Gastessayist Tettamanti, «wir» würden heute «Kopernikus, Galilei, Pascal, Newton, die schottische und die französische Aufklärung auslöschen» und «Shakespeare, Dante und Goethe korrigieren». Verantwortlich dafür seien – unter anderen – Michel Foucault, die «afroamerikanischen Aktivisten» von Black Lives Matter und die Gender Studies.

Der Fisch stinkt vom Kopf

Die selbsterklärte Kämpferin für die Werte des Westens, Ayaan Hirsi Ali, wiederum orakelt im selben Blatt, der Islamismus nutze ähnliche Mittel der «modernen Subversion» wie einst der Kommunismus. Beide, Islamismus und Kommunismus, seien heute die Hauptfeinde des Westens. Doch gebe es «Hoffnung»: «Im Krieg um die Wiederherstellung der Ordnung» verfüge «der Westen über ausreichend Mittel, die wir einsetzen können, wenn wir nur den Willen dazu haben». Man will es lieber nicht genauer wissen.

Nun sind weder Hirsi Ali noch Tettamanti NZZ-Redaktor:innen. Alles nur eingekaufte Provokation also? Nein. Auch dieser Fisch stinkt vom Kopf in der eigenen Redaktionsstube. Unter dem Titel «Der grösste Feind des Westens ist der Westen» stimmte Benedict Neff, NZZ-Feuilletonchef, schon vor Wochen den gleichen Abgesang an. Trotz viel Westen im Titel geisselt er im Text ausführlich die «unkontrollierte Einwanderung». Erst auf der Zielgerade biegt er mit voller Fahrt in seine Hauptthese ein: Unter dem Postkolonialismus stehe «das gesamte westliche Erbe unter Anklage»; aus Selbstkritik werde rasch «Selbstzerstörung». In seinem Schlusswort zitiert Neff – sicher rein zufällig – Hirsi Alis Mann, den Historiker Niall Ferguson, der über den verlorenen Glauben an die «von unseren Vorfahren ererbte» Zivilisation sinniert.

Auch aus der katholischen Gruft wehen faulige Gerüche herüber. Martin Grichting, stockkonservativer Kirchenrechtler, ist regelmässig Gast im NZZ-Feuilleton. Unter dem trotzigen Titel «Die westlichen Ideen bleiben wahr» definierte er kürzlich Grundrechte und Gleichberechtigung als christliche Errungenschaften. Ausgerechnet aus dem konservativsten Winkel des katholischen Männervereins rufts also plötzlich nach Frauen- und Freiheitsrechten. Blöd nur, dass der frischgebackene Feminist Grichting ansonsten Gleichberechtigung stets salbungsvoll in den Wind schlägt. Etwa indem er «das den Männern vorbehaltene Weihesakrament» als wichtigsten Schutz des christlichen Glaubens preist.

Zu reaktionär für die Kirche

Zu Recht hat Fabian Renz in den Tamedia-Zeitungen darauf hingewiesen, dass die hier so wortreich beschworene Bedrohung auffallend diffus bleibe. Was in diesen Texten allerdings noch vagere Konturen hat als seine «Feinde», ist der «Westen» selbst. Er wird zwar beschrieben als Leuchtturm aus Leistungsbereitschaft, Wettbewerb, Wissenschaft, Kultur, Aufklärung und Freiheit. Doch wie glaubwürdig kann das sein aus dem Mund eines Offshore-Steuervermeiders, eines Katholiken, der selbst der Kirche zu reaktionär ist, und eines Feuilletonchefs, der AfD-Vokabular streut und letzten Sommer mit einem einfühlsamen Porträt des französischen Faschisten Renaud Camus aufgefallen ist? Wenn diese scheinheiligen Kreuzritter im Sinkflug sind, dann hoffen «wir» doch gern auf eine wuchtige Bruchlandung.