Geschichte der Attentate: «Morde bringen in Demokratien nichts»

Nr. 29 –

Die Schüsse auf Donald Trump setzen eine lange Liste von Anschlägen auf Politiker:innen fort. USA-Experte Georg Schild über ikonische Bilder und historische Lehren.

Gemälde des Attentats auf Abraham Lincoln 1865
«Seine Tat war kontraproduktiv»: John Wilkes Booth erschoss 1865 Abraham Lincoln. Foto: Library of Congress

WOZ: Herr Schild, am Samstag hat ein Zwanzigjähriger bei einer Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania auf Donald Trump geschossen. Hätten Sie so etwas für möglich gehalten?

Georg Schild: Grundsätzlich kann man so etwas nie ausschliessen. Seit 1835 haben Anschläge auf mindestens fünfzehn US-amerikanische Präsidenten stattgefunden. Deshalb werden auch so viele Vorsichtsmassnahmen getroffen. Ich habe längere Zeit in Washington gelebt und dort gesehen, wie der Präsident von der Bevölkerung abgeschirmt wird, wenn er unterwegs ist. Ich hätte es daher nicht für möglich gehalten, dass sich jemand hundert Meter von der Redner:innentribüne in Stellung bringen und sich in aller Ruhe aufs Schiessen vorbereiten kann. Zum Vergleich: Als Ronald Reagan 1987 in Berlin seine «Tear down this wall»-Rede hielt, schützte ihn eine zentimeterdicke Glasscheibe vor möglichen Schüssen aus der DDR.

Der USA-Historiker

Georg Schild (63) ist Professor für Nordamerikanische Geschichte an der Universität Tübingen und forscht zur Sozial- und Verfassungsgeschichte der USA sowie zu deren Aussen- und Sicherheitspolitik. Er ist Autor diverser Bücher, darunter Biografien von Abraham Lincoln und John F. Kennedy. 2012 war der Historiker Mitherausgeber des Bands «Politische Morde in der Geschichte. Von der Antike bis zur Gegenwart», in dem zwölf Fälle verhandelt werden, von Julius Cäsar über Jeanne d’Arc bis zur RAF und dem Terror des 11. September 2001.

Foto von Georg Schild
Foto: Berthold Steinhilber

Überall kursiert nun das Foto von Trump, wie er da steht und seine Faust in die Luft reckt. Wie wichtig sind die Bilder eines solchen Moments?

Dieses Bild ist wirklich beeindruckend und wird in Erinnerung bleiben. Trump wird verletzt, steht sofort wieder auf und ergreift die Initiative, zeigt: Wir müssen kämpfen. Er sagt nicht, wofür – das ist brillant gemacht –, jede:r denkt sich etwas anderes, wofür gekämpft wird. Ich kenne keinen anderen Politiker, der derart instinktsicher agieren würde. Deshalb habe ich das Gefühl, dass am Samstag die Wahl entschieden wurde. Das Bild einer Kämpfernatur auf der einen Seite und ein Mann, dem man nicht zutraut, sich selbst die Schuhe zu binden, auf der anderen – das ist schon ein deutlicher Unterschied.

Welche Rolle spielen solch ikonische Bilder in der anschliessenden Bewertung von Attentaten?

John Wilkes Booth, der Abraham Lincoln erschiesst, oder das Cabriolet mit Jackie Kennedy im blutverschmierten rosa Kostüm: An solche Bilder erinnert man sich natürlich. Aber Lincoln und John F. Kennedy starben bei den Attentaten und standen damit nicht mehr zur Wiederwahl. In dem Buch über politische Morde, das ich mitherausgegeben habe, kommen wir zum Schluss, dass diese ihre Ziele gerade in Demokratien nicht erreichen – im Gegenteil: Im Fall von Konföderationsanhänger Booth lässt sich deutlich zeigen, wie kontraproduktiv die Tat war. Eigentlich wollte er sich für die Niederlage der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg rächen – dabei wäre Lincoln dem Süden gegenüber wohl sehr moderat aufgetreten. Nach seinem Tod übernahm stattdessen der Kongress die politische Führung, dessen «Reconstruction Policy» viel aggressiver war.

Was hätte es für Folgen gehabt, wenn Donald Trump am Samstag getötet worden wäre?

Die Konsequenzen von Trumps Tod wage ich mir gar nicht auszumalen. Es hätte zu Gewalt führen können, wenn rechte Verschwörungstheoretiker:innen behauptet hätten, Biden stünde hinter dem Attentat. Insofern haben wir Glück, dass er nur leicht verletzt wurde. 1912 wurde Theodore Roosevelt angeschossen – davon gibt es zwar nur wenige Bilder, aber wir wissen, dass die Kugel durch ein Stück Metall abgehalten wurde. Diese vermeintliche Stärke Roosevelts galt als Inbegriff der Männlichkeit. Und jetzt Trump: Er leidet mit seinem ganzen Körper, steht wieder auf, kämpft weiter. Wäre das in vier Jahren passiert, vielleicht auf dem Weg zur Abschlusskundgebung seiner Amtszeit, hätten wir ein ganz anderes Bild. Es gibt in der Geschichte aber auch eine Kontingenz: wie wirksam Zufälle sind. Eine leichte Verletzung, Blut im Gesicht, ganz viele Fotograf:innen, die dabei sind. Es braucht all diese nicht planbaren Teile.

Konnten die Präsidenten, die Anschläge überlebt haben, jeweils politisches Kapital daraus schlagen?

Ronald Reagan hat es wohl ein bisschen geholfen – er wurde ja im Januar 1981 angegriffen, ganz zu Beginn seiner Amtszeit, und hat sich dann geschickt verhalten. Als er ins Spital kam, war er noch bei Bewusstsein, was für das Präsidialamt wichtig ist; wer unter Narkose steht, muss das Amt übergeben. Im OP-Saal soll Reagan den Ärzt:innen gesagt haben: «Ich hoffe, ihr seid alle Republikaner.» Daraufhin habe der Oberchirurg entgegnet: «Mr. President, heute sind wir alle Republikaner.» So eine Geschichte wird dann natürlich überall erzählt und fördert die Sympathie. In anderen Fällen war die Tat für die Gesamtbevölkerung aber nur schwer zu verstehen. Gerald Ford etwa ist 1975 zweimal von Frauen angeschossen worden, was ihm keine Sympathiepunkte gebracht hat.

Sehen Sie bereits Anzeichen dafür, dass Trump den Anschlagsversuch für sich nutzen wird?

Es deutet sich an, dass Trumps Rhetorik sich wandelt: von einer aggressiven in eine, die auf die andere Partei zugeht. Davon könnten sich auch viele Demokrat:innen angezogen fühlen. Ich glaube, dass Trump schon vier Monate weiter ist als wir: Er hält keine Wahlkampfreden mehr, sondern Reden eines Präsidenten. Er braucht auch keine Kritik an Biden mehr zu äussern – der ist nicht mehr sein Gegner, sondern bloss ein alter Mann, der die Wahl verloren hat.

Sehen Sie überhaupt noch Möglichkeiten, Trump zu verhindern?

Nein, eigentlich nicht. Ich glaube auch nicht, dass es jemanden gibt, der von Biden jetzt noch übernehmen würde, selbst wenn er heute aussteigen würde. Man wird ja bloss verheizt und geht in die Geschichte ein als derjenige, der gegen Trump verloren hat.

Sie haben Ihr Buch über politische Morde erwähnt. Wann ist ein Mord politisch?

Im Buch schauen wir die Zeit von der Antike bis zur Gegenwart an, insofern gibt es nicht die eine Antwort. Ist der Mord an Jeanne d’Arc etwa politisch oder religiös motiviert? Generell würde ich sagen: Wird jemand als Politiker:in angegriffen, ist es ein politischer Mord – aber das betrifft nur moderne Demokratien. Beim ersten Anschlag auf Andrew Jackson, den siebten Präsidenten der USA, ging es etwa darum, dass der Täter psychische Probleme hatte und Jackson dafür verantwortlich machte, dass er keinen Job hatte. Das ist eine Grauzone. Ich glaube, dass man psychische Aspekte viel stärker berücksichtigen müsste, als wir Historiker:innen das können. Um das zu bewerten, fehlt mir das Handwerkszeug.

Ist es also das Motiv, das einen Mord zu einem politischen macht?

Da gibt es keine spezifische Definition. Auch im Fall von Thomas Crooks, der auf Trump geschossen hat, würde ich noch nicht von einem politischen Attentat sprechen; wir wissen ja noch nicht, was er wollte.

Eine spezifische Form des politischen Attentats ist der Tyrannenmord, der die Bevölkerung von einem ungerechten Herrscher befreit. Wird hier in der historischen Bewertung eine Legitimität des Tötens hergestellt?

Ja, das würde ich so sehen. Aber das trifft auf die Leute, mit denen ich mich befasse – von Lincoln über Kennedy bis hin zu Trump –, nicht zu.

Gibt es in den USA eigentlich häufiger politische Morde als andernorts?

Bis 1981 schon. Das Attentat auf Reagan hat dann aber ein Umdenken eingeleitet: Seither werden Präsidenten stärker geschützt. Abraham Lincoln wurde einmal angeschossen, als er in Washington alleine ausgeritten ist. Und Harry Truman konnte man noch dabei zusehen, wie er – bloss von einem Polizisten begleitet – nach dem Abendessen um den Block des Weissen Hauses lief. Dass der Präsident sich unter die Menschen mischt, gibt es heute nicht mehr: Er lebt in einem Kokon.

Mit seiner Rhetorik hat Trump zu einer extremen Verrohung des Diskurses beigetragen, und die meisten Republikaner:innen befürworten liberale Waffengesetze. Was sagen politische Morde über den Zustand des politischen Systems aus, in dem sie stattfinden?

Würden wir sagen, ein Regime ohne politische Morde sei besser, hätte Nordkorea vielleicht das beste System. Unsere Gesellschaften aber sind offen, insofern kann es praktisch überall passieren. Doch die US-Gesellschaft hat sich tatsächlich an ein Ausmass an Gewalt gewöhnt, das in Europa nicht vorstellbar wäre. Abgesehen von den Attentaten auf Präsidenten gab es auch Angriffe auf Politiker:innen wie den Republikaner Steve Scalise oder die Demokratin Gabrielle Gifford, die schwer am Kopf getroffen wurde und sich bis heute nicht von dem Angriff erholt hat.

Überlebende von Attentaten schreiben dies häufig einer höheren Macht zu. Hitler etwa glaubte nach dem äusserst knapp gescheiterten Attentat von Georg Elser, seine politische Mission sei schicksalhaft. Auch Trump rekurrierte sofort darauf, er sei von Gott geschützt worden. Tragen Attentate also auch zur Mystifizierung der Angegriffenen bei?

Im Fall von Trump kommt einem sofort das Beispiel des gekreuzigten Jesus in den Sinn – nur stammt Trumps blutiges Gesicht nicht von der Dornenkrone. Jesus ist erst nach drei Tagen auferstanden, Trump schon nach einer Minute!

Spätestens bei den russischen Revolutionär:innen von der Narodnaja Wolja, die einen tödlichen Anschlag auf Zar Alexander II. verübten, spricht man von Terrorismus. Wann ist etwas Terror, wann ein politischer Mord?

Die Abgrenzung ist sehr schwierig. Aber ich würde sagen: Terrorismus ist der Mord als Mittel zum Zweck. Man tötet zwar eine Person, will aber eigentlich auf ein Kollektiv wirken, um bestimmte Vorstellungen oder Gefühle wie Angst zu erzeugen. Bei der RAF etwa war der Mord an Hanns Martin Schleyer nur Mittel, um etwas anderes zu erreichen – als Arbeitgeberpräsident hatte er ja nicht wirklich politische Macht. Aber auch jemand wie der Bundeskanzler: Was soll die Ermordung von so jemandem bringen? Der hat ja keine Macht per se, sondern bekommt diese qua Amt auf gewisse Zeit. Die Vorstellung eines politischen Mordes kommt aus einer Zeit, in der man annahm, der König trage die Amtswürde in seiner Person, und deshalb greife man mit der Person auch diese an.

Sind politische Morde im Vergleich zu Anschlägen terroristischer Netzwerke häufiger Taten von Einzeltätern oder «Lone Wolves», wie sie romantisierend genannt werden?

Ja und nein. Von Lee Harvey Oswald etwa glaube ich, dass er mit niemandem über seine Pläne gesprochen hat – John Wilkes Booth dagegen schon. Manche politischen Morde werden vielleicht von «Lone Wolves» geplant, andere weit oben im Apparat, etwa im Kreml. Alexei Nawalny ist im Gefängnis gestorben – aus Gründen, die wir nicht kennen. War das ein politischer Mord, den Wladimir Putin angeordnet hat? Und beim Anschlag auf Papst Johannes Paul II.: Stand der bulgarische Geheimdienst dahinter oder allein der türkische Rechtsextremist Mehmet Ali Ağca? Das sind Dinge, die sich meiner Kenntnis entziehen. Auch Julius Cäsar wurde übrigens nicht von Bauern umgebracht, sondern von Senatoren – per Definition die Elite in der römischen Republik.

Lässt sich aus der Geschichte politischer Attentate eine bestimmte Lehre ziehen?

In einer Demokratie bringen politische Morde nichts, weil die Macht – anders als in einer Monarchie oder einer Diktatur – nicht bei einer Person liegt. Würde etwa Putin etwas passieren, käme es in Russland zu Verwerfungen. Ob die Situation danach besser würde, ist eine andere Frage.