Durch den Monat mit Peter Schneider (Teil 3) : Sind Sie ein Demogänger?

Nr. 34 –

Psychoanalytiker Peter Schneider versucht, sich nicht über schlecht geschriebene Pamphlete zu ärgern. Verbindungen zwischen Politik und Therapie findet er oft eher krampfhaft.

Portraitfoto von Peter Schneider
«Töpfe und Waschbrett als Symbole bei einer feministischen Demo, das scheint mir eher antiquiert»: Peter Schneider.   

WOZ: Peter Schneider, gibt es eine Psychologisierung unseres Alltags – in der Art, in der wir miteinander reden?

Peter Schneider: Dass jetzt angeblich alle immer sagen: «Das triggert mich»? Na ja, das stimmt zwar. Aber die Leute sagen ja auch so was wie «Ist nice hier» oder so.

Sie meinen, es spielt keine Rolle?

Ja. Sprache ändert sich eben. Ich habe mich auch schon darüber lustig gemacht. Ich hatte eine Zeit lang den Running Gag mit Narzissmus, der auf einmal überall war: «Wie erkenne ich, ob mein Mann ein Narzisst ist?», solche Sachen. In allen entstigmatisierenden diagnostischen Diskursen braucht es offenbar doch wieder einen Sündenbock. Erst wars lange Borderline, nun lang anhaltend Narzissmus. Aber dass solche Begriffe in die Alltagssprache einfliessen, finde ich nicht weiter problematisch.

Es scheint auch so, als würden gerade vermehrt gewisse Diagnosen gestellt, zum Beispiel ADHS bei Erwachsenen. Wie steht das damit im Zusammenhang?

Ich finde das überhaupt nicht erstaunlich. Autismus ist ein ähnliches Beispiel, da war die Rate früher einmal 1 zu 10 000, heute ist sie 1 zu 80. Das hat mit dem Begriff des Spektrums zu tun und vor allen Dingen mit den Behandlungsmethoden: Einer von 10 000, der wurde als Jugendlicher als schizophren abgestempelt und verwahrt. Das war wirklich jenseits von Gut und Böse. Durch den Aktivismus von Eltern und Betroffenen ist Autismus zu einer Diagnose geworden, die nicht unbedingt stigmatisiert ist, sondern Hilfsmöglichkeiten anbietet. Das heisst, man bekommt heute vielleicht einen Nachteilsausgleich bei einer Prüfung, kann also in einem stillen Raum arbeiten und hat eine Viertelstunde länger Zeit, während man um 1900 in der psychiatrischen Klinik kalt abgespritzt worden wäre – das erklärt, wieso die Diagnose jetzt mehr aufkommt. Und ich glaube, mit ADHS ist das ähnlich. Die Entstigmatisierung führt zu häufigeren Diagnosen und damit auch zu Selbstdiagnosen.

Ist die Diskussion darüber müssig?

Sich darüber aufzuregen, sicher. Die, denen es nützt, können Ritalin nehmen, die, die finden: Das hab ich, na gut … Das ist wie bei mir und Alzheimer: Ich vergesse wirklich wahnsinnig viele Namen, aber im Moment besteht kein Grund, eine Diagnose zu stellen. Irgendwann müsste man vielleicht.

Kann die Psychologisierung von Alltagszusammenhängen auch zu deren Entpolitisierung führen?

Das würde ich nicht gegeneinander ausspielen. Verbindungen herzustellen zwischen Politik und Therapie, finde ich manchmal eher krampfhaft. Ich denke, beides kann sehr gut nebeneinander existieren. Das mit der Psychologisierung ist im Übrigen auch nichts Neues, das fing schon in den Siebzigern an. Umgekehrt sind auch die politischen Erklärungen oft nicht gerade augenöffnend.

Zum Beispiel?

Wenn man ein Arbeitsumfeld als toxisch beschreibt, ist das sehr schwammig; es als strukturell problematisch zu bezeichnen, ist etwas besser, aber immer noch ungenau. Oder Begriffe wie Neoliberalismus, Kapitalismus, das Patriarchat … Da weiss man auch so ungefähr, was gemeint ist, aber dass einem in dem Wort gleich die ganze Analyse aufgeht, kann man wirklich nicht sagen. Das macht auch manche Pamphlete mit der Zeit so unlesbar. Wie Gebete: Erlöse uns vom Kapitalismus, und gib uns unser Brot und so weiter. Auf der anderen Seite gibt es zum Glück auch wirklich detaillierte Analysen, wo nicht einfach nur der Kampf gegen das grosse Böse ausgerufen wird.

Es braucht doch beides, Parole und detaillierte Abhandlung.

Ja, ja, wahrscheinlich schon.

Sie sind einfach kein Demogänger, oder?

Nein, wirklich nicht (lacht). Da zieht sich bei mir auch immer alles zusammen. Aber sicher brauchts das. Ich würde auch nicht sagen, ich bin für ein Verbot des 1. Mai oder des Feministischen Streiks, weil manche Parolen meinen analytischen Kriterien nicht genügen.

Das wäre auch schlimm.

Das wäre schlimm, ja. Aber manchmal finde ich die Wahl der Mittel schon … Töpfe und Waschbrett als Symbole bei einer feministischen Demo zum Beispiel, das scheint mir eher antiquiert.

Damit beruft man sich auch auf die eigene Geschichte. Machen Sie es sich nicht ein bisschen bequem?

Wenns mich doch nicht immer so nerven würde … (lacht). Nein, im Ernst. Ich will ästhetische Kriterien nicht im politischen Kontext anwenden. Ausser die Leute marschieren in Schwarzhemden – wobei das auch wieder über die Ästhetik hinausginge. Wenn ich tatsächlich etwas dazu schreiben würde, dann wohl darüber, ob es eine Protestbewegung nicht hindert, wenn sie zu sehr historisiert. Sicher ist es wichtig, historisch aufzuarbeiten, was passiert ist; aber dann braucht es auch mal etwas Neues. Man muss mit dem Kult der Alten aufpassen. Ich freue mich nicht, wenn heute Zwanzigjährige Freud gleich lesen, wie ich es mit zwanzig getan habe. Das finde ich deprimierend.

Peter Schneider (66) ist Psychoanalytiker. Wie er aufgewachsen ist, erzählt er in der nächsten Folge.