Durch den Monat mit Peter Schneider (Teil 4): Sind Sie altersradikal?
Als Kind hatte Psychoanalytiker Peter Schneider eine falsche Vorstellung davon, wie es sein würde, ans Gymnasium zu gehen. Heute könnte er das Perpetuum mobile erfinden, meint er, und doch würden alle nur nach Philip Maloney fragen.
WOZ: Peter Schneider, sind Sie in einem intellektuellen Haushalt aufgewachsen?
Peter Schneider: Nein, in einer Arbeiterfamilie.
Was haben Ihre Eltern gemacht?
Mein Vater war auf der Zeche. (Zieht den Ärmel hoch und zeigt ein Tattoo auf dem Unterarm: Schlägel und Eisen, ein Symbol für den Bergbau.) Aber als Elektriker, nicht als Bergmann. Und meine Mutter war Hausfrau.
Wo genau war das?
Am Rand des Ruhrgebiets, in Dorsten. Das ist keine Industriestadt. Es gab da zwar die Zeche, aber sonst keine Schwerindustrie. Mein Vater erzählt manchmal noch, welche Ressentiments die Poahlbürger – so nennt man in der Gegend die alteingesessenen Familien – gegen die Leute hatten, die auf der Zeche gearbeitet haben. Und heute sagt er: «Dafür habe ich die bessere Rente.» Er war immer in der Gewerkschaft, immer Sozialdemokrat und irgendwann auch beim katholischen Arbeiterbund. Aber weil das im Ruhrgebiet an den Rändern so kleinstädtisch und ländlich ist, kenne ich auch dieses «Was werden die Nachbarn sagen», also diese besondere Art der kleinbürgerlich-moralischen Überwachung. Dazu gehört aber auch eine starke nachbarschaftliche Bindung, was Feste und Hilfeleistungen angeht.
Spielte Politik bei Ihnen zu Hause eine Rolle?
Mein Vater war als Sozialdemokrat eher allein in seiner familiären Umgebung und der meiner Mutter. Aber das war kein Riesenthema. Selbst bin ich eher nach links abgewichen, aber Brandts Ostpolitik, seinen Kniefall in Warschau, die Änderung des Abtreibungsparagrafen, das fand ich natürlich gut. Ich bin jedenfalls mit Willy-Brandt-Anstecker zur Schule. Dort hatten wir auch einen Marx-Lesekreis, bei dem ich dabei war. Ich fand allerdings damals schon Freud interessanter.
War Ihre Mutter auch politisch aktiv?
Nein. Politik hat sie nicht brennend interessiert.
Haben Sie Geschwister?
Keine.
War es komisch für Ihre Eltern, dass Sie studierten?
Komisch nicht, aber ich war wahrscheinlich schon ein bisschen auf der einsamen Seite (lacht). Ich habe als Kind viel Zeit bei meinen Grosseltern mütterlicherseits verbracht, weil meine Mutter schwer krank war. Das Bild, das meine Grossmutter mir vom Gymnasium vermittelt hat, war eines aus dem Roman «Die Feuerzangenbowle» von Heinrich Spoerl: Von der Sexta bis zur Prima trug man Mützen mit Bändern in verschiedenen Farben. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, wie es tatsächlich sein würde.
Trotzdem war es verlockend?
Sehr verlockend! Mit zehn war ich nämlich schon eine Art älterer Herr, der mit solchen antiquierten Vorstellungen viel anfangen konnte.
Gab es später, als Sie an der Uni waren, eine Distanz zwischen Ihnen und Ihren Eltern?
Ja, sie hatten überhaupt keinen Bezug zu dem, was ich da machte. Dann redet man eben über anderes. Ich hatte aber nie das Gefühl, gegen meine Eltern rebellieren zu müssen.
Und heute? Sind Sie eher altersmild oder altersradikal?
Altersmild bin ich im Privaten und altersradikal sicher nicht wie so ein in die Jahre gekommenes politisches One-Trick-Pony, das sich auf ein einziges Thema eingeschossen hat. Aber wenn man den Begriff versteht als eine Art Radikalität in Bezug auf das Abwägen oder das Einbeziehen verschiedener Positionen, dann kann ich mich durchaus damit anfreunden. Darf ich übrigens noch was nachtragen zum letzten Interview?
Sicher.
Mein Hinweis auf das Töpfeklappern an feministischen Demos, das ich als peinlich aus der Zeit gefallen bezeichnet habe, das ist natürlich derselbe Quatsch, den ich selbst immer anprangere: sich irgendetwas aus den Fingern zu saugen und dann dagegen anzuargumentieren. Tatsächlich habe ich nämlich keine Ahnung, wann ich dieses Töpfeklappern zum letzten Mal gesehen habe.
Darf ich dafür noch was zu «Philip Maloney» fragen? – Wieso machen Sie jetzt so ein Gesicht?
Gar nicht! Eine Zeit lang hat mich das immer genervt. Ich habe mal gesagt: Selbst wenn ich für die Erfindung des Perpetuum mobile den Nobelpreis bekommen hätte, würde man mich immer noch mit den Worten vorstellen: «Aber den meisten von Ihnen wird Herr Schneider als Erzählstimme von Philip Maloney bekannt sein.» Aber man kann für Schlimmeres nachhaltig berühmt sein.
Er scheint für die Schweiz wichtig zu sein.
Ja, ja. Ich bin auch total ausgesöhnt damit.
Haben Sie mit «Philip Maloney» etwas über die Schweiz gelernt?
Nö. Wenn, dann kriegt man über ein Land doch eher was übers Zeitunglesen mit.
Peter Schneider (66) ist Psychoanalytiker und war lange als Erzählstimme im Hörspiel «Philip Maloney» von Roger Graf im Radio zu hören.