Von oben herab: Schöne Scheisse
Stefan Gärtner riecht Kapitalismus

Dass mir die Paralympics von Paris so gleichgültig waren, ist nicht Ableismus, sondern dem Umstand geschuldet, dass mir Olympia generell da vorbeigeht, wo selbst der König sich nicht sieht; ich verstehe ja schon immer nicht, warum «Gold für Deutschland» so was essenziell Tolles sein soll. Wenn mich die Paralympics überhaupt momentlang interessieren, dann weil die Aktiven im Moment des Sieges jenen ohne Behinderung ähnlich werden, jedenfalls denen, die gewonnen haben. Denn Dabeisein ist nur dann alles, wenns mit dem Sieg nicht geklappt hat: «Schwangere Bogenschützin holt Bronze», meldet spiegel.de. «‹Das Baby hat nicht aufgehört zu strampeln›, sagte Jodie Grinham. Die Britin ist im siebten Monat schwanger und hat eine Medaille gewonnen. Das ist vorher noch keiner paralympischen Athletin gelungen.» Inklusiv sind die Paralympics auch darin, dass sich mit ihnen das von den Umständen entkoppelte Leistungs- und Konkurrenzprinzip feiern lässt. Schwangeres Bogenschiessen auf Wettkampfniveau ist vielleicht kein Skandal, eine Werbung für verlängerten Mutterschutz aber eben auch nicht.
Um so bedauerlicher, dass die, wie es aussieht, spezifisch schweizerische Disziplin des «Priisgeglä» noch nicht olympisch ist: In Brunnen SZ, verrät uns «20 Minuten», ist es jetzt zum vierten Mal darum gegangen, «das schwerste Häufchen auf die Waage zu bringen. Die ‹Athletinnen und Athleten› konnten sich vor Ort spontan anmelden und ihr Geschäft in einer Kabine verrichten.» Der Sieger war mit 318 Gramm Daniel Keller aus dem lokalen Schübelbach. Er grinste sehr entspannt in die Kamera, was man in diesem Fall aber auch verstehen kann.
So mit siebzehn, achtzehn Jahren schrieb ich fürs Heimatblatt sogenannte «Lokalspitzen», und aus einem Grund, der mir entfallen ist, zitierte ich einmal den Klospruch: «Da wo mein Müsli dampft, da bin ich unverkrampft.» Der Satz wurde, aus Dezenz und wohl auch aus Angst vor Kundschaftsprotest, gestrichen; so ändern sich die Zeiten! Heute ist das Schwyzer Preisscheissen laut «20 Minuten» eine «grosse Gaudi», und ich bin natürlich dafür, weil es, wie unfreiwillig immer, eine Satire aufs ewige Wettbewerben ist und ausserdem einen quasiparalympischen Nebenwettbewerb unnötig macht: Denn das können auf irgendeine Weise ja nun alle, Behinderung egal. Vielleicht ist es aber auch keine Satire, sondern bittere Wahrheit: dass der Mensch nicht anders kann, als sich zu vergleichen, das zeitgenössische Trommelfeuer rund um Individuali- und Identität bürgt dafür. Moderne Linke wissen hier sofort, dass der Konkurrenzgedanke «sozial konstruiert» ist, und ziehen, wie ich ja eben auch, eine gerade Linie vom gesellschaftlichen Anspruch zum verinnerlichten Gebot, und tatsächlich litt die Wirtschaftsleistung des realen Sozialismus nicht wenig darunter, dass Konkurrenz als kapitalistische Unsitte galt. Das war gemütlich, aber auch ein bisschen langweilig, weshalb die Leute in der Mehrzahl erst mal froh waren, als der Kapitalismus kam.
Aus Gründen wie diesen bin ich stets dafür, den Menschen auch als Naturwesen zu begreifen, das zum Beispiel Zucker in sich hineinstopft, weil das früher einmal wichtig war, um nicht unters Mammut zu kommen. Das gesellschaftliche Moment tritt dann gleich hinzu, weil Zucker billig ist und abhängig macht, und also ist der Kapitalismus, definiert man «Erfolg» nur kapitalistisch, so erfolgreich, weil er den Menschen da abholt, wo er evolutionär zu stehen gekommen ist, und ihn dann im niederen Sinn so weiterformt, dass eine schwangere Rollstuhlfahrerin wegen einer strampelnden Leibesfrucht nicht daran denkt, einen Pfeil im Köcher zu lassen. Da nehme ich mir gern ein Beispiel und nach all den Jahren einen neuen Anlauf, einen Klospruch in die Zeitung zu bringen, alors: Das Leben ist wie eine Hühnerleiter – kurz und beschissen.
Jetzt geht es mir besser!
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.
Sein Buch «Tote und Tattoo» ist im WOZ-Shop erhältlich: www.woz.ch/shop.