Schuldenbremse: Diszipliniert euch doch selbst!
Triebkontrolle, Moral und ein düsteres Menschenbild: Woher kommt eigentlich die Idee, Politiker:innen mittels einer Schuldenbremse zur schwarzen Null zu zwingen?
Eine schwarze Null auf einem sterbenden Planeten – glaubt man den Verfechter:innen der Schuldenbremse, beginnt das alles irgendwie mit Odysseus. Mit dem Helden aus der griechischen Mythologie, angebunden an einen Mast, während sein Schiff an der Insel der Sirenen vorbeizieht. Seine Mannschaft weist er an, sich die Ohren mit Wachs zuzustopfen, um deren süssen Gesang nicht zu hören. Odysseus selbst findet es aber schöner, sich fesseln zu lassen und ihre Verlockung zu spüren, ohne ihr nachgeben zu können. So weit, so bekannt.
Und damit zu den Budgetdebatten, die in Bundesbern in den kommenden Wochen anstehen: heftige Verteilkämpfe um die Bundesgelder, um Sparmassnahmen und Ausbaugelüste (vgl. Kasten «Kampf um Milliönchen»). Schuldenquote, Zinslast, Staatsanleihen: Fiskalpolitik ist komplex. Das macht es umso leichter, die Ideologie der Austerität auf dem beschränkten Markt der Ideen als Naturgesetz zu verkaufen.
Umso mehr, als dem Parlament bei der Budgetberatung ja tatsächlich enge Grenzen gesetzt sind. Die Verfassung schreibt ihm grundsätzlich vor, dass sein Budget, bereinigt um einen sogenannten Konjunkturfaktor, kein Defizit aufweisen darf. Die Schweizer Schuldenbremse ist eine der schärfsten der Welt. Sie garantiert bei wachsendem Bruttoinlandprodukt über lange Frist eine Reduktion der Schuldenquote. Renommierte Ökonom:innen haben diesen Mechanismus schon hinlänglich kritisiert (siehe WOZ Nr. 37/24).
Die Bürgerlichen verteidigen sie trotzdem mit grosser Vehemenz. Und es geht dabei nicht nur, wie gern behauptet wird, darum, dass die Schuldenbremse ein ausgeglichenes Budget garantiert. Dafür bräuchte es keine verfassungsrechtlichen Vorgaben, zumal das Schweizer Parlament seit Jahrzehnten ohnehin von Liberalen dominiert wird. Disziplinieren könnten sich diese eigentlich auch selbst – oder nicht?
Villiger kann nicht schlafen
Auf der Titelseite der Fachzeitschrift «Constitutional Political Economy» ist eine Zeichnung von Odysseus abgebildet, wie er an den Schiffsmast gefesselt ist. In diesem Organ wurde die Idee einer in der Verfassung verankerten Schuldenbremse mitentwickelt. Schon bevor sie auch über Kaspar Villiger kam, als dieser, wie er erzählt, eines Nachts Ende der neunziger Jahre nicht schlafen konnte. Grund dafür sei die Schweizer Schuldenquote gewesen, die sich in jenem Jahrzehnt fast verdoppelt hatte.
In einer seiner schlaflosen Nächte also beschloss der damalige Bundesrat, «dass es so nicht weitergehen konnte», wie er letztes Jahr in einer Rede sagte, die er im Rahmen der Festlichkeiten zum Zwanzig-Jahr-Jubiläum der Schweizer Schuldenbremse hielt. Villiger gilt als deren Vater, und in seiner Rede umreisst er auch, weshalb er sie für so wichtig hält: wegen der Schwächen der Demokratie, die er bei «den Menschen» verortet.
Kampf um Milliönchen
Die Wintersession wird wie jedes Jahr im Zeichen der Bundesfinanzen stehen, wobei der Fokus dieses Jahr auf den Armeefinanzen liegen wird (vgl. «Wessen Sicherheit?»).
Schon der Budgetentwurf des Bundesrats sieht erhebliche Sparmassnahmen für alle Ausgabenbereiche vor – ausser bei der Armee. Die Finanzkommissionen der beiden Kammern wollen noch weiter gehen: Sie fordern, dass das Armeebudget im nächsten Jahr um weitere 530 Millionen Franken aufgestockt wird. Gespart werden soll stattdessen bei der internationalen Zusammenarbeit, dem Bundespersonal sowie im Asylbereich. Die ständerätliche Kommission fordert ausserdem eine Neuzuteilung der Einnahmen aus der OECD-Mindeststeuer auf Kosten der Kantone – ebenfalls zugunsten der Armee. Wofür diese das Geld dereinst ausgeben soll, ist noch unklar.
Beide Kommissionsvorschläge sind knapp schuldenbremsenkonform. Noch nicht zur Debatte stehen die zusätzlichen Sparmassnahmen, die der Bundesrat im Rahmen des besonders umstrittenen Entlastungspakets vorsieht. Sie sollen Anfang nächstes Jahr in die Vernehmlassung gehen.
Der Altbundesrat bemüht in seiner Rede die Public-Choice-Theorie aus den sechziger Jahren, geprägt unter anderen vom Ökonomen James Buchanan. Diese versucht, arg verkürzt gesagt, politisches Verhalten anhand ökonomischer Prinzipien zu erklären. In den Augen Buchanans sind wir alle Akteur:innen, die in erster Linie daran interessiert sind, maximalen Nutzen zu erzielen: Marktgänger:innen, die auch in der Politik bloss Vorteile für uns selbst zu erwirken versuchen.
Eigentlich könnte es egal sein, wenn einige Leute in Anzügen einem so düsteren Menschenbild nachhängen, würden sie nicht von sich auf andere schliessen. Doch Villiger erklärt es so: Politiker:innen wollen wiedergewählt werden und versuchen deshalb, ihren Wähler:innen Vorteile auf Kosten der anderen zu verschaffen. Weil Steuererhöhungen aber unpopulär sind, «entsteht ein Anreiz zur Finanzierung dieser Leistungen mit Schulden».
Ein paradoxes Projekt
Die Verfechter:innen der Public-Choice-Theorie rund um Buchanan begründeten auf Basis dieser Überlegungen die Disziplin der Verfassungsökonomik, die sie in der erwähnten Fachzeitschrift diskutierten. Odysseus verbildlicht das hier unternommene Projekt: die Politiker:innen mittels Verfassung an der Auslebung ihrer Triebe, also der Klientelpolitik, zu hindern. Ungeklärt bleibt in der Analogie, ob sie sich nicht einfach die Ohren zustopfen könnten – vielleicht aber muss man sich die Schuldenbremse als lustvolles Projekt vorstellen.
Der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher hat schon mehrere Bücher zur Theorie des Neoliberalismus publiziert; derzeit lehrt und forscht er in Frankfurt am Main. In einem Beitrag für das Magazin «Geschichte der Gegenwart» skizzierte er unlängst die Theoriebildung der Schuldenbremse und das Paradox, das ihr zugrunde liegt.
Denn Buchanan selbst hielt die reale Einführung einer Schuldenbremse für kaum möglich. Er konnte gar nicht anders: Wenn alle Akteure der Gesellschaft am grösstmöglichen Nutzen für sich selbst interessiert sind, dann dürfte es auch nicht möglich sein, dass sie sich selbst für eine Einschränkung dieser Möglichkeit starkmachen. Wieso sollen sie also jemals einer Schuldenbremse zustimmen?
«Eine doch recht grundsätzliche Frage», nennt das Biebricher, auf die die Verfassungsökonom:innen auch dann noch keine Antwort gefunden hätten, als die ersten Schuldenbremsen längst in Kraft getreten seien. Folgt man seiner Argumentation, bedeutet das: Die Einführung der Schuldenbremse macht deren Begründung hinfällig.
Wobei sich das theoretische Problem, wie Biebricher gegenüber der WOZ sagt, sogar noch akzentuiere, wenn die Massnahme wie einst in der Schweiz nicht nur von Politiker:innen, sondern auch von der Stimmbevölkerung gutgeheissen werde. Folgerichtig habe Buchanan selbst vor seinem Tod angesichts der realpolitischen Entwicklungen nach der Jahrtausendwende seine Annahme über den Homo oeconomicus revidiert, sagt Biebricher.
Nicht in allen Köpfen ist diese Revision auch angekommen. Bundesrätin Karin Keller-Sutter nennt die Schuldenbremse bis heute gern ihre «gute Freundin», und sie wird auch in den kommenden Budgetdebatten wieder mahnend an sie erinnern. Auch sie hielt an besagter Party zu Ehren der Schuldenbremse letztes Jahr eine Rede und schloss diese mit einem Zitat aus «dem Volksmund»: «Spare in der Zeit, so hast du in der Not.»
Schuld und Sühne
Thomas Biebricher sieht in der Schuldenbremse nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine moralisch motivierte «Regierungstechnik». Es gehe dabei um die Disziplinierung «wankelmütiger Subjekte, die mit harter Hand erzogen werden müssen, um in den Stand der Tugendhaftigkeit zu gelangen». Oder anders: Geht es hier wirklich noch darum, keine Schulden zu machen, oder nicht doch eher darum, sich nichts zuschulden kommen zu lassen?
Von einem «fiskalpolitischen Fetisch» spricht die deutsche Ökonomin Isabella Weber, die in Massachusetts in diesem Zusammenhang forscht. Von einem Fetisch, der dringend nötige Investitionen verhindere: «Wie soll man denn den Klimawandel bekämpfen, wenn sich die reichen Länder Europas mit Schuldenbremsen die Hände fesseln?», fragt Weber.
Ein Staatshaushalt funktioniert nun mal anders als das Budget der sparsamen «schwäbischen Hausfrau», die Angela Merkel einst zur Ikone der Austerität erklärte. Die Hausfrau stirbt irgendwann, Staaten leben leider ewig. Dafür haben sie die Möglichkeit, sich langfristig auf bevorstehende Not vorzubereiten, sofern sie denn wollen.
Verfechter:innen der Schuldenbremse wie Karin Keller-Sutter betonen gern, dass es darum gehe, den nachfolgenden Generationen keine unbezahlten Rechnungen zu hinterlassen. Um die tatsächliche Bedeutung der Schuldenbremse zu verstehen, bedarf es vielleicht gar keiner mythologischer Allegorien.
Vielleicht reicht auch Evidenz: Der emeritierte ETH-Volkswirtschaftsprofessor Michael Graff belegte etwa letztes Jahr mit einer Studie, dass geringe Staatsverschuldung mit grösserer Ungleichheit korreliert. Eine andere quantitative Studie von Forscher:innen der Universität Chemnitz und der ETH kam schon 2019 zum Schluss, dass Schuldenbremsen die Umverteilung behindern und die Ungleichheit fördern.