Asylpolitik: Wie lange kann man eine Lage beurteilen?
Seit Monaten weigert sich die Schweiz, Asylgesuche von Sudanes:innen zu prüfen. Nun wehren sich die Betroffenen – eine der Wortführerinnen ist Sara Mohammed Sulaiman.
Sie ist nicht gekommen, um jemanden um einen Gefallen zu bitten. Dick eingepackt in einen Daunenmantel steht Sara Mohammed Sulaiman vor dem Westflügel des Bundeshauses. «Wir sind hier, um unsere grundlegenden Menschenrechte wie Sicherheit, Würde und Mobilitätsfreiheit einzufordern», ruft sie durch ein Mikrofon in die Menge. Rund 150 Personen haben sich an diesem Dienstag Ende November in Bern versammelt, die meisten davon flüchteten wie Mohammed Sulaiman vor dem Krieg im Sudan in die Schweiz. Vors Bundeshaus gekommen sind sie, weil die Behörden ihre Asylanträge nicht bearbeiten.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat vor neun Monaten ein sogenanntes Asylmoratorium für Personen mit sudanesischer Staatsangehörigkeit in Kraft gesetzt (siehe WOZ Nr. 25/24). «Wir sind dem Horror im Sudan entflohen und suchen in der Schweiz nach Sicherheit», sagt Mohammed Sulaiman, die die Demo mitorganisiert hat. «Doch nun gehen unser Leiden und unsere Ungewissheit auch in der Schweiz weiter.» Das Moratorium des SEM verursache bei den Betroffenen grossen psychischen Stress und Zukunftsängste, so die 33-Jährige. Dazu trügen auch die Zustände in den überfüllten Asylunterkünften bei.
Im Widerspruch zum Gesetz
Insgesamt warten, Stand Ende Oktober, 172 Personen mit sudanesischen Papieren auf einen Asylentscheid. Weil das SEM bereits einige Zeit vor Inkrafttreten des offiziellen Moratoriums keine Gesuche von Menschen aus dem Sudan mehr behandelt hatte, harren 69 von ihnen schon länger als ein Jahr aus, bei 5 sind es gar mehr als zwei Jahre. Die langen Wartezeiten stehen im Widerspruch zu den gesetzlichen Bestimmungen, die auch für komplexere Fälle eine Frist von maximal zwei Monaten bis zum Entscheid vorsehen. Das SEM macht eine Ausnahmebestimmung geltend, weil «aufgrund der volatilen Lage im Sudan der weitere Verlauf des Konflikts nicht absehbar» sei. Das mache eine Überprüfung der Lage im Sudan notwendig.
Andere Schweizer Verwaltungseinheiten haben sich allerdings längst ein Bild der Lage gemacht: Zwei Tage bevor das SEM am 28. Februar sein Moratorium beschloss, hatte das Aussendepartement vor der «beispiellosen humanitären Krise» im Sudan gewarnt. Die Dramatik der Lage scheint aber auch sonst allen klar zu sein: Als «Albtraum aus Gewalt, Hunger, Krankheiten und Vertreibung» fasst Uno-Generalsekretär António Guterres diese zusammen.
Nachdem 2019 eine friedliche Revolution den autokratischen Langzeitherrscher Umar al-Baschir gestürzt hatte, ergriffen bald Militärs die Macht. Seit Mai 2023 kämpfen die sudanesischen Streitkräfte und parastaatliche Milizen um die Macht im nordostafrikanischen Staat. Sie gehen dabei mit grosser Brutalität gegen die Zivilbevölkerung vor. Bis zu 150 000 Menschen wurden gemäss Uno-Angaben bereits getötet, über elf Millionen vertrieben, viele mussten mehrfach flüchten. Die meisten fanden Zuflucht in anderen Landesteilen und Nachbarländern (vgl. «Die Geflüchteten der anderen»). Dort sind die Behörden mit der grossen Zahl der Geflüchteten allerdings überfordert, deren Lebensbedingungen sind gemäss der Uno ebenfalls miserabel.
Am stärksten unter der Gewalt im Sudan litten die Frauen, sagt Sara Mohammed Sulaiman. «Sie werden systematisch vergewaltigt, gefoltert und erschossen.» Mohammed Sulaiman spricht dabei auch als Menschenrechtsspezialistin, bis vor ihrer Flucht hatte sie für eine internationale NGO gearbeitet. Im Oktober nahm sie in Genf als Vertreterin des Sudan an einer internationalen Friedenskonferenz teil – und stellte anschliessend in der Schweiz ein Asylgesuch. «Ich erhielt Hinweise, dass ich nach einer Rückkehr in den Sudan in Gefahr wäre.» Mehr will sie zum Schutz ihrer im Land verbliebenen Angehörigen und Arbeitskolleg:innen nicht sagen.
Ein Ende des Konflikts ist derzeit nicht absehbar. Bisher scheiterten gar die Bemühungen, die beiden Kriegsparteien überhaupt an den Verhandlungstisch zu bringen. Derweil sind die offiziellen Streitkräfte wie auch die sie bekriegenden Paramilitärs für eine Hungersnot verantwortlich, wie es sie global seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Bereits heute verfügen 24 Millionen Personen über zu wenig Nahrung.
Ein Spiel auf Zeit?
So drastisch die Lage im Sudan ist: Beim SEM ist man nach neun Monaten immer noch an der «Lagebeurteilung der aktuellen Situation». Nach deren Abschluss werde man «eine neue Asyl- und Wegweisungspraxis erarbeiten», teilt die Behörde auf Anfrage mit. Für das Migrant Solidarity Network, das bei der Organisation der Kundgebung in Bern mitgeholfen hat, spielt das SEM auf Zeit, um die Menschen aus dem Sudan nicht aufnehmen zu müssen: «Würde es das Moratorium heute aufheben, stünde den Asylsuchenden aus dem Sudan laut Gesetz mindestens eine vorläufige Aufnahme zu.» Das SEM weist den Vorwurf der absichtlichen Verzögerung zurück.
Fakt ist: Obwohl die Lage im Sudan unbestritten desaströs ist, warten die Vertriebenen in den Asylzentren auch weiterhin darauf, dass ihr Gesuch geprüft wird. Für Sara Mohammed Sulaiman ist das inakzeptabel: «Wie der Schweizer Staat mit uns umgeht, ist auch eine Form von Gewalt.»