Auf allen Kanälen: Der Agent auf der Titelseite

Nr. 15 –

Vor zwanzig Jahren wurde die Journalistin Giuliana Sgrena nach ihrer Befreiung im Irak von US-Soldaten beschossen. Der Fall bleibt rätselhaft.

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stilisierter Ausschnitt aus dem Logo von «Il manifesto»

Am 4. Februar 2005 wurde die italienische Journalistin Giuliana Sgrena in Bagdad von einer Gruppe junger Männer entführt, die sich «Organisation des islamischen Dschihad» nannte. Sgrena arbeitete als Korrespondentin der linken Tageszeitung «Il manifesto». In den Jahren zuvor hatte sie aus Somalia, Palästina, Algerien und Afghanistan berichtet. «Embedded journalism», beschützt und manipuliert durchs Militär, lehnte sie ab. Anders als viele Kolleg:innen, die höchst selten ihre Hotels verliessen, ging sie auch in Bagdad dorthin, wo Gefahr drohte.

So kam die Entführung nicht überraschend – weder für sie noch für ihre Kolleg:innen in Italien. Diese starteten sofort eine Solidaritätskampagne, kritisierten das Besatzungsregime im zweiten Jahr nach dem offiziell verkündeten Kriegsende. Sie forderten den Abzug der italienischen Truppen, die an der Besatzung beteiligt waren, und prägten den Slogan «Lasst uns Giuliana und alle Iraker befreien!», der von einer schnell wachsenden Solidaritätsbewegung aufgenommen wurde.

Ein Koffer voller Dollar

Derweil schwankte die Entführte zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Sie fürchtete zeitweilig, den Verstand zu verlieren, versuchte, letzte Nachrichten an ihren Partner und ihre Familie zu hinterlassen. So beschrieb es Giuliana Sgrena in ihrem Buch «Friendly Fire» (2006). Dann wieder machte sie Pläne für die Zeit nach ihrer Befreiung, ermutigt durch die Versicherung der Entführer: «Wir sind keine Killer!» Ihnen gegenüber habe sie «eine Ebene von Konflikt und Konfrontation» gewählt, um sich weniger ohnmächtig zu fühlen.

Immer wieder quälte sie die Frage, warum gerade sie entführt worden war – sie, die die von George W. Bush und Tony Blair angeführte völkerrechtswidrige Invasion im Irak verurteilte und mit deren Opfern solidarisch war. Sgrena fühlte sich «doppelt besiegt»: als Gefangene und als Opfer eines Krieges, den sie und Millionen andere nicht verhindern konnten. Lebensgefahr drohte ihr aber nicht nur in der Gewalt der Entführer, sondern auch für den Fall, dass sich die US-Truppen zu einem Befreiungsversuch entschliessen sollten; dabei wären ihre Überlebenschancen verschwindend klein gewesen.

Nach vier Wochen einigten sich italienische Geheimdienstler und ein «business man» als Interessenvertreter der Entführer auf einen Deal: Freilassung der Geisel gegen einen Koffer voller Dollar. Nachdem das Geld übergeben war, sollte Sgrena nach Rom ausgeflogen werden. Das grösste Risiko bestand auf der kurzen Strecke zum Bagdader Flughafen, die mit dem Auto zurückgelegt werden musste. Am Steuer sass der italienische Agent Andrea Carpani, auf der Rückbank neben Sgrena sein Kollege Nicola Calipari. Kurz vor dem Ziel wurde das Auto beschossen. Im Kugelhagel starb Calipari; mit seinem Körper hatte er Sgrena gedeckt, die schwer verletzt wurde. Geschossen hatten US-Soldaten. In ihrem Buch beschreibt Sgrena den Moment nach den Schüssen: «Sie kommen zu uns herüber: Sie öffnen die Tür auf Nicolas Seite, heben seinen Kopf. ‹Shit!›, sagt einer von ihnen.»

Sgrena bestreitet Darstellung

Nach einer Operation im US-Militärspital wurde Sgrena nach Rom geflogen. Die Freude über ihre Rettung wurde getrübt durch die Trauer um Calipari. Untersuchungen gegen die Todesschützen stellte das US-Militär bald ein. Nach der offiziellen Version sei das Auto zu schnell unterwegs gewesen, und der Fahrer habe auf wiederholte Signale – Rufe, Lichtzeichen und Warnschüsse – nicht reagiert. Sgrena bestreitet diese Darstellung. Bis heute ist unklar, ob es sich bei dem tödlichen Angriff um Versehen oder Vorsatz handelte.

Der Tod von Nicola Calipari bleibt für Italien ein nationales Trauma. Die italienischen Medien erinnern immer wieder an den «Fall Sgrena/Calipari». Auch in der Redaktion von «Il manifesto» sind die dramatischen Wochen Anfang 2005 dauerhaft präsent. Dabei stehen die Kollegin und die Kampagne zu ihrer Rettung im Mittelpunkt. Gleichzeitig erinnert man sich an das einzige Mal in der Geschichte der Zeitung, als das Foto eines hochrangigen Geheimdienstlers als Zeichen der Dankbarkeit die Titelseite füllte.