Haitis Sicherheitsminister: «Ohne soziale Gerechtigkeit bleiben die Banden»

Nr. 16 –

Wie Patrick Pélissier, Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit, der Gewalt krimineller Banden Herr werden will.

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WOZ: Herr Pélissier, Sie waren in den vergangenen zwanzig Jahren Menschenrechtsanwalt. Nun sind Sie ausgerechnet zu einer Zeit Justiz- und Sicherheitsminister geworden, in der rund 85 Prozent der Hauptstadt von kriminellen Banden kontrolliert werden, in der es täglich zu Feuergefechten kommt und in der die Polizei, deren Chef Sie sind, besonders viele Menschen tötet. Haben Sie die Seite gewechselt?

Patrick Pélissier: Das mag so aussehen, aber im Grunde mache ich dasselbe wie zuvor, nur von einem anderen Ort aus. Premierminister Alix Didier Fils-Aimé will Veränderungen, das gibt mir die Möglichkeit, zumindest zu versuchen, etwas zum Besseren zu wenden. Ich habe dabei drei Prioritäten. Die erste ist es, die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen. Die zweite sind Wahlen und eine Reform der Verfassung, und die dritte besteht darin, Gerichte wieder handlungsfähig zu machen. Wir brauchen Untersuchungsrichter und Gerichte, die nicht nur die unmittelbaren Täter der grossen Verbrechen ins Gefängnis bringen, sondern auch deren Hintermänner und Auftraggeber. Sie müssen in der Lage sein, auch Geldwäsche und andere Finanzverbrechen aufzuklären.

Der Minister

Der promovierte Jurist und Menschenrechtsanwalt Patrick Pélissier (51) ist seit Mitte November 2024 Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit in der Übergangsregierung von Haiti. Pélissier und Toni Keppeler kennen sich seit über zwanzig Jahren.

 

Portraitfoto von Patrick Pélissier

WOZ: Was die Sicherheit angeht, sieht es derzeit schlecht aus. Es gibt Spekulationen darüber, ob Port-au-Prince nicht demnächst ganz in die Hände der Banden fallen wird.

Patrick Pélissier: Wir sind dabei, die Polizei zu verstärken. Nicht nur mit mehr Personal, sondern auch mit speziellen Einheiten für geheimdienstliche und für Aufklärungsarbeit. Es geht dabei nicht nur um Manpower, es geht auch um mehr technisches Wissen. Wir bilden derzeit 729 neue Polizisten aus. Dazu sollen in den nächsten drei Monaten 3000 neue Soldaten kommen. Sie werden in Brasilien dazu ausgebildet, kriminelle Banden zu bekämpfen.

WOZ: Man geht von rund 12 000 Bandenmitgliedern aus, von denen etwa die Hälfte Kinder sind. Warum hat die Polizei derart Mühe, 6000 junge Männer und 6000 Kinder zu bekämpfen?

Patrick Pélissier: Das sind Schätzungen, und ich weiss nicht, ob sie richtig sind. Richtig ist, dass ein grosser Teil der Bandenmitglieder jünger als achtzehn Jahre ist. Das eigentliche Problem aber ist, dass die Banden über Waffen verfügen, die die Polizei nicht hat. Sie haben Waffen, mit denen sie gepanzerte Militärfahrzeuge aufhalten können. Die Banden besitzen eine Offensivkraft, die wir nicht haben.

WOZ: Wo kommen diese Waffen her?

Patrick Pélissier: Sie kommen über die Grenze aus der Dominikanischen Republik und über das Meer. Kolumbien ist von unserer Südküste gerade einmal zwei Stunden entfernt. Auch von dort kommen viele Waffen ins Land. Wir haben nun ein Abkommen mit der kolumbianischen Regierung: Sie will ihre Küste besser überwachen und auch uns mit entsprechenden Booten ausstatten. Wenn es uns gelingt, den Waffennachschub zu unterbinden, wird das die Banden schwächen. Dann haben wir eine Chance.

WOZ: Woher haben die Banden das Geld für die Waffen?

Patrick Pélissier: Das Geld bringen sie inzwischen selbst auf. Sie sind nicht mehr abhängig von den Politikern, die sie einst aufgebaut haben, sie sind heute autonom. Eine grosse Einnahmequelle ist der Drogenhandel, eine andere der Organhandel. Dazu kommen Entführungen und Schutzgelderpressung.

WOZ: Gerüchte über Organhandel gibt es immer wieder. Aber dafür braucht es eine medizinische Infrastruktur, die haitianische Krankenhäuser nicht haben. Gibt es Beweise?

Patrick Pélissier: Wir haben über ein Dutzend Leichen ohne Organe gefunden. Und wir haben erst vor kurzem einen Chirurgen verhaftet, der von einer Bande entführt worden war. Er behandelte verwundete Bandenmitglieder und sollte auch Entführungsopfern Organe entnehmen. Er erzählte uns, er sei erstaunt gewesen über die Installationen, die sie hätten. Organhandel ist ein internationales Geschäft, in dem viel Geld bewegt wird. Diese Netzwerke haben die Mittel, ihr eigenes Krankenhaus einzurichten.

WOZ: Haben die Banden neben kriminellen auch politische Ziele? Der Bandenchef Jimmy Chérizier behauptet, seine Koalition Viv ansanm aus verschiedenen Gangs sei eine politische Partei.

Patrick Pélissier: Ich sehe keine politischen Ziele. Was die Banden wollen, ist Kontrolle über ihre Territorien. Dort haben sie auch so etwas wie ein Justizsystem. Um ein Beispiel zu geben: Viele Frauen in diesen Stadtvierteln werden vergewaltigt. Wenn nun der Chef einer Bande Interesse am Opfer einer Vergewaltigung hat, wird der Täter erschossen. Ist ihm das Opfer egal, passiert nichts. Das ist ein Justizsystem von Gangstern. Das hat nichts mit Politik zu tun, sondern mit Kontrolle über ein Territorium. Eben deshalb müssen wir sie in ihren Hochburgen bekämpfen und nicht nur, wenn sie herauskommen. Wir müssen dorthin gehen, wo sie sind.

WOZ: Zusammengefasst ist Ihre Strategie also, den Banden den Waffennachschub abzuschneiden und sie dann mit mehr und besser ausgebildetem Personal in ihren Stammgebieten anzugreifen.

Patrick Pélissier: Es kommt noch ein dritter Schritt dazu, unser DDR-Programm: Disarmament, Demobilization and Reintegration (Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung). Die Regierung hat beschlossen, ein Zentrum aufzubauen, in dem die Kinder aus den Banden aufgenommen werden sollen.

WOZ: Wie kommen Sie an die Kinder heran?

Patrick Pélissier: Wir arbeiten eng mit Sozialarbeitern zusammen, und wir wissen, dass es viele Kinder gibt, die die Banden verlassen wollen. Aber wenn sie in von Banden kontrollierten Gegenden wohnen, haben sie keine andere Wahl. Die Banden verlangen, dass sie mitmachen, und es gibt keine Institution, die sie auffangen könnte. Eine solche Institution müssen wir schaffen.

WOZ: Was können Sie den Kindern anbieten?

Patrick Pélissier: Zunächst einmal einen Ort, an dem sie bleiben können. Wir müssen ihnen Bildung mitgeben und die Chance, eine eigene Zukunft ohne Banden aufzubauen. Die jüngeren werden wir in die Schule schicken, die älteren sollen ein Handwerk lernen.

WOZ: Die Übergangsregierung soll am 7. Februar kommenden Jahres von einem gewählten Präsidenten abgelöst werden. Diese Zeit wird für Ihre Vorhaben kaum ausreichen.

Patrick Pélissier: Es wird ein langer, kontinuierlicher Kampf werden. Die Banden sind nicht vom Himmel gefallen. Sie konnten so stark werden, weil es in diesem Land keine soziale Gerechtigkeit gibt, weil es viel zu wenige Möglichkeiten gibt, sein eigenes Leben aufzubauen und ehrlich sein Geld zu verdienen. Solange wir dieses Problem nicht gelöst haben, werden Banden immer möglich sein. Wir können Veränderungen nur anstossen.

WOZ: Ergeben Wahlen in so einem Umfeld überhaupt Sinn?

Patrick Pélissier: Natürlich können wir keine Wahlen in Gebieten organisieren, die unter der Kontrolle von Banden stehen. Doch diese Regierung hat ihre Legitimität aufgrund eines Kompromisses zwischen verschiedenen politischen Gruppen. Die letzte gewählte Regierung war die von Jovenel Moïse. Die Wahlbeteiligung lag unter zwanzig Prozent. Der Präsident wurde mit einer halben Million Stimmen gewählt. Wenn wir es schaffen, Wahlen in den acht Departements zu organisieren, die nicht von Banden kontrolliert werden, bekommen wir vielleicht einen Präsidenten, der mit einer Million Stimmen gewählt wird. Er wird dann mehr Legitimität haben als Moïse. Wir haben keinen anderen Weg.