Gazakrieg: Wer verteidigt das Recht?

Nr. 19 –

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Verzweifelte Familien, die sich mit leeren Töpfen vor den Suppenküchen einreihen. Hungrige Kinder, die in Abfallbergen nach Essenresten wühlen. Graue Trümmerhaufen, unter denen nicht nur leblose Körper, sondern auch die Hoffnungen ganzer Generationen begraben liegen. Gaza im Mai 2025. Oder wie es der palästinensische Dichter Mosab Abu Toha – soeben mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet – in einem Essay für den «New Yorker» ausdrückte: «In Gaza wird jedes zerstörte Haus zu einer Art Album, das jedoch nicht mit Fotos gefüllt ist, sondern mit echten Menschen, die Toten zwischen die Seiten gepresst.»

Seit bald zehn Wochen blockiert die israelische Regierung alle Hilfslieferungen nach Gaza. Das Bild, das NGOs von der humanitären Lage zeichnen, könnte dramatischer kaum sein. Lebensmittel, Treibstoff, Unterkünfte und Medikamente – an allem fehlt es. Über zwei Millionen Menschen, eingepfercht auf einer immer kleineren Fläche eines ohnehin winzigen Landstrichs, ein ums andere Mal vertrieben. Dass Israel Hunger als Kriegswaffe einsetzt, darin sind sich Expert:innen inzwischen einig. Die Zivilbevölkerung wird kollektiv bestraft: ein offenkundiges Kriegsverbrechen.

Die dringlichen Mahnungen der Hilfsorganisationen verhallen im Nichts. Statt die Blockade zu stoppen, will Israel nun den gesamten Gazastreifen besetzen. Zehntausende Reservist:innen werden bereits für das Vorhaben mobilisiert. Gaza soll «komplett zerstört», die Bewohner:innen sollen erst in den Süden gebracht und dann in Drittstaaten vertrieben werden, liess der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich die Welt soeben offen wissen. Von Siedler:innen wie Smotrich vor sich her getrieben, versucht Benjamin Netanjahu, den eigenen Machterhalt zu sichern. Das Wohl der 24 noch lebenden Geiseln hat er dabei kaum im Blick, das humanitäre Völkerrecht, dem ein Staat auch und gerade im Krieg verpflichtet bleibt, verkommt zur Makulatur. Dass sich auch die Hamas nicht für Frieden interessiert, ist ebenso Teil der Wahrheit.

Wie stark internationale Normen unter Druck stehen, lässt sich am Umgang mit Gaza exemplarisch zeigen. Im November hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) drei Haftbefehle erlassen: gegen Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister sowie gegen den (inzwischen getöteten) Hamas-Militärchef. Seither kann die Erosion des Rechts in Echtzeit verfolgt werden.

In Budapest empfing Viktor Orbán den israelischen Premier mit grossem Brimborium und kündigte auch gleich Ungarns Ausstieg aus dem ICC an. In Washington liess Donald Trump Sanktionen gegen unliebsame Gerichtsvertreter:innen verhängen. Zugleich haben mehrere europäische Staaten mitgeteilt, den israelischen Premier bei einem Besuch nicht festnehmen zu wollen – und damit die Wirkmacht der Gerichtsbarkeit gleich ganz ausgehebelt. Denn was sind universelle Normen wert, wenn sie nicht für alle gelten?

Das Völkerrecht basiere auf einem universalistischen Versprechen, so hat es der israelische Philosoph Omri Boehm kürzlich formuliert: dem Versprechen, dass alle Menschen den gleichen Schutz verdienten. «Das Recht hat keine eigene Kraft. Es lebt nur durch diejenigen, die es verteidigen.» In einer Zeit, in der sich die Interessen der Stärkeren vielerorts mit roher Gewalt durchsetzen, ist diese Verteidigung umso dringlicher – gerade auch durch ein Land wie die Schweiz, das mit den Genfer Konventionen auch das humanitäre Völkerrecht hütet. In Bezug auf Gaza hiesse das im Mindesten, dass der Bundesrat offensiv für ein Ende der Blockade und einen sofortigen Waffenstillstand einsteht.

Verteidigt wird das Recht aber ohnehin nicht primär von den Mächtigen. In Israel hat sich, so schreibt es etwa das Onlinemagazin «+972», zuletzt eine wirkmächtige Bewegung formiert: 100 000 Israelis verweigern den Dienst an der Waffe. Mögen die Motive dafür auch unterschiedlich sein, eines ist klar: Soldat:innen, die in einem Krieg nicht kämpfen wollen, können die Pläne der Herrschenden schnell durchkreuzen.