Film: Sinnlos, barbarisch, von hypnotischer Schönheit

Nr. 34 –

Der katalanische Regisseur Albert Serra dringt mit seinem Dokumentarfilm tief ins Wesen des Stierkampfs vor – wegsehen beinahe unmöglich.

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Andrés Roca Rey, Protagonist im Film «Tardes de soledad»
Protagonist Andrés Roca Rey, der Superstar-«Töter», in «Tardes de soledad». Still: Andergraun Films

Der Ausdruck des Stiers, der in der allerersten Einstellung direkt in die Kamera zu blicken scheint, enthält weder Angst noch Aggression oder Anklage. Allerhöchstens könnte man sich dazu verleiten lassen, eine Art distanzierter Neugier aus seinen Augen zu lesen oder traurige Irritation über das, was er da ihm gegenüber vorfindet. Einen Gegenschuss zu dieser Einstellung, der uns über das Objekt dieser elementaren Gleichgültigkeit aufklären würde, liefert der Film nicht.

Für Ernest Hemingway, nicht bekannt für nuancierte Ansichten, gab es genau drei «wahre Sportarten», während es sich beim Rest um «blosse Spiele» handle: Autorennen, Bergsteigen – und den Stierkampf. Welches für den Schriftsteller dabei die zentrale Charakteristik war, lässt sich dem Titel seines Essays zur Faszination, Kultur und Geschichte der spanischen Tradition – «Tod am Nachmittag» – entnehmen: Es kann gestorben werden. Ist man grosszügig und schliesst auch nichtmenschliche Perspektiven mit ein, ist der Tod sogar garantiert. Er ist ein unabdingbarer Teil dieser «kulturellen Tradition», einziger Zweck des blutigen Rituals und Höhepunkt des barbarischen Spektakels. Es ist, als wäre die Corrida – weniger ein Kampf als ein gefährlicher Tanz – von Beginn weg als Metapher für die menschliche Existenz konzipiert worden: sinnlos, ungerecht, immer tödlich, oft bizarr, von grotesker Grausamkeit, aber auch voller Momente transzendenter Schönheit.

Mit ähnlichen Attributen lässt sich auch «Tardes de soledad» (Nachmittage der Einsamkeit) des katalanischen Filmemachers Albert Serra beschreiben, der sich mit schwierigen, aber in der Regel hochgradig faszinierenden Werken wie zuletzt «Pacifiction» (2022) an die Spitze des europäischen Autor:innenfilms gehievt hat. In seinem ersten Dokumentarfilm gelingt ihm nun nichts weniger, als mit den Mitteln des Kinos zum Kern einer Praxis vorzudringen, deren Ursprünge sich bis in die Bronzezeit zurückverfolgen lassen. Heute aber steht der Stierkampf selbst in Spanien und dessen ehemaligen Kolonien unter Beschuss oder kurz vor dem Verbot. Vollkommen zu Recht, mag man anfügen: Die institutionelle, aber nutzlose Tötung von (nicht ganz) wehrlosen Kreaturen zur Belustigung eines Publikums ist im 21. Jahrhundert mit dem Argument der nationalen Tradition schlicht nicht mehr zu rechtfertigen.

«Ein Scheusal! Ein Krimineller!»

All diese Fragen freilich – betreffend Geschichte, Tradition oder gar Moral des Stierkampfs – interessieren den Film kein bisschen. Weder macht er uns mit den Regeln der Corrida vertraut, noch erfahren wir Nennenswertes über Biografie oder Alltag seines Protagonisten, des peruanischen Superstar-Matadors Andrés Roca Rey. Der Film zeigt diesen ausschliesslich als Torero: vor den Kämpfen, nach den Kämpfen sowie insbesondere und unauslöschlich während der Kämpfe. Während zwei Stunden sehen wir Momente aus vierzehn Corridas, jeweils gerahmt von Szenen, die Roca Rey bei seinen Vor- und Nachbereitungsritualen im Hotel oder in der Limousine zeigen, die ihn und seine Mit-Toreros zur Arena und wieder nach Hause chauffiert. Nebst der «Präparation» des Stiers für seinen finalen Tanz mit dem Matador mittels vieler kleiner Verletzungen scheint es die Hauptaufgabe dieser Mit-Toreros zu sein, dem Matador – also dem «Töter» – zu jener psychischen Verfassung zu verhelfen, die für den lebensgefährlichen Tanz und schliesslich den Todesstoss nötig ist.

Das im Film mit Abstand am häufigsten geäusserte Wort lautet dann auch «cojones». Gemeint sind die «Eier» des Matadors, deren schier unermessliche «Grösse» diesem unablässig versichert werden muss, um seinen heiligen, gesichtsverzerrenden Todesmut zu bewahren im Angesicht der spitzen Hörner, mit denen der buchstäblich angestachelte Stier («Ein Scheusal! Ein Krimineller!», so die Stimmen im Funk) immer wieder in seine Richtung rennt.

Delirium des Realen

Die Qualität der Immersion während solcher Sequenzen ist beinahe absolut. Hochmoderne, strategisch um den Kampfplatz herum platzierte Kameras und Mikrofone, mit denen sich am taktischen Geschrei (und den Eierbeschreibungen) der Toreros teilhaben lässt, vermitteln die Corrida in einer Unmittelbarkeit, wie sie nicht mal dem Publikum in der Arena zuteilwird. Das zentrale, wirksamste und unerbittlichste Mittel des Films aber ist die Repetition. Die für Serra durchaus typische Gratwanderung zwischen intellektuell-ästhetischer Überwältigung und produktiver Langeweile führt hier sogar zu einer Entglorifizierung – nicht obschon, sondern gerade weil der Film die Faszination, die von solch hochritualisierter und hochästhetisierter Gewalt ausgeht, nicht leugnet.

Nicht ohne Stolz zitierte Serra im Filmgespräch nach der Vorstellung in Nyon im April einen Zuschauer, der ihm attestiert habe, filmisch bis zu dem vorgedrungen zu sein, was Jacques Lacan «das Reale» nennt – also in etwa das, was von der Wirklichkeit übrig bleibt, nachdem alles von dieser abgezogen wird, was sprachlich beschreibbar oder bildlich vorstellbar ist. Es wäre eine Art Delirium aus Traurigkeit, Blut und Tod, mit einem Augenpaar im Zentrum. Und in diesem gespiegelt: wir selbst.

«Tardes de soledad». Regie: Albert Serra. Spanien/Frankreich/Portugal 2024. Ab 28. August 2025 im Kino.

Vorstellungen in Anwesenheit des Regisseurs in: Zürich Xenix, Do, 28. August 2025, 20 Uhr; Basel Stadtkino, Fr, 29. August 2025, 20.30 Uhr; Bern Rex, Sa, 30. August 2025, 20 Uhr; Zürich Arthouse Le Paris, So, 31. August 2025, 12.15 Uhr; Winterthur Cameo, So, 31. August 2025, 18.30 Uhr.