Chinas Geburtenrate: Die andere Krise
Im Kapitalismus sinken tendenziell die Geburtenzahlen, und Arbeitskräfte werden knapp – auch in China: Die Regierung will, dass Frauen mehr Kinder bekommen. Doch die wehren sich.
Ende Juli 2025 kündigte die Kommunistische Partei Chinas die Einführung von Kindergeld an. Sie will die Zahl der Geburten steigern, die sich zuletzt von 18,8 Millionen (im Jahr 2016) auf 9,54 Millionen (2024) halbiert hat. Für jedes Kind sollen bis zum dritten Geburtstag 3600 Yuan (umgerechnert 400 Franken) pro Jahr gezahlt werden. Das geplante Kindergeld reicht allerdings kaum, um ein Kind aufzuziehen, zumal die Kosten für das Aufziehen von Kindern in China viel höher sind als in anderen Ländern.
China steht nicht alleine da. Auch in anderen Industriezentren Asiens ist die Geburtenzahl deutlich gesunken. 2024 wiesen sie die weltweit niedrigsten Fertilitätsraten auf: Japan 1,2, Volksrepublik China 1,0, Taiwan 0,9 und Südkorea 0,7. Die Fertilitätsrate gibt an, wie viele Kinder eine Frau im Lauf ihrer Fortpflanzungsfähigkeit durchschnittlich gebären wird. Sinkt sie unter 2,1, wird die Bevölkerungszahl fallen. Bis auf Israel liegen auch alle OECD-Länder unter diesem Wert.
Weltweit sinkt die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter bereits, in wenigen Jahrzehnten wird die Weltbevölkerung schrumpfen. Chinas Bevölkerung tut das bereits seit 2021, auf zuletzt 1,408 Milliarden Menschen. Setzt sich der Trend fort, werden es 2075 noch eine Milliarde sein und 2100 noch 600 Millionen – so viele wie 1950. Es liegt nahe, Chinas Einkindpolitik (1980–2015) dafür verantwortlich zu machen, ihr Einfluss bleibt jedoch umstritten. Selbst in Indien, das weniger rigide Massnahmen zur Geburtenkontrolle durchführte und mit 1,46 Milliarden Menschen China als bevölkerungsreichstes Land abgelöst hat, ist die Fertilitätsrate in den letzten dreissig Jahren von 3,7 auf 2,0 gesunken.
Folgen der Proletarisierung
Ob in China, in Indien oder anderswo, hinter den sinkenden Fertilitätsraten steht ein Prozess, der überall die Grundlage kapitalistischer Verhältnisse bildet: die Proletarisierung der ländlichen Bevölkerung. Die Ausweitung der Heimproduktion von Waren bis ins 18. Jahrhundert in Europa sowie die folgende, oft gewaltsame Trennung von den Produktionsmitteln und die anschliessende Abhängigkeit von Lohnarbeit – der Prozess der Proletarisierung also – verschärften die Ausbeutungs- und Lebensbedingungen.
Zunächst nahm die Fertilität zu, weil das Familienwohl nicht mehr von der Verfügung über genügend Land abhing, sondern von der Zahl der Kinder, die als Arbeitskräfte dienen konnten. Da gleichzeitig aufgrund besserer Gesundheitsversorgung und Hygiene die Mortalität vor allem von Kindern sank und mehr Menschen bis zum Ende ihrer Gebärfähigkeit lebten, wuchs die Bevölkerung rapide an.
Langfristig ist mit der zunehmenden Proletarisierung die Fertilität jedoch überall gesunken. In Westeuropa gebaren Frauen schon im späten 19. Jahrhundert deutlich weniger Kinder. Das Verbot von Kinderarbeit und die Schulpflicht schränkte Kinderarbeit als Quelle des Familieneinkommens ein. Aufgrund steigender Löhne waren proletarische Familien auch weniger auf Kinderarbeit angewiesen, und sie brauchten Kinder auch nicht mehr im selben Mass für die Absicherung bei Krankheit und im Alter. Das galt insbesondere dort, wo der Staat Sozialsysteme etablierte. Derweil stiegen die Kosten für die Bildung und die Versorgung von Kindern deutlich. In proletarischen Familien mussten Männer und Frauen für Lohn arbeiten, um die Familie versorgen zu können, und die Frauen mussten zusätzlich weiter die nichtentlohnte Reproduktionsarbeit erledigen. Kinder wurden zur Belastung und Bürde, wenn es um die eigenen Lebensbedingungen ging.
Die Verbreitung von Verhütungstechniken ab dem späten 19. Jahrhundert und von synthetischen Verhütungsmitteln ab den sechziger Jahren sowie der einfachere Zugang zu Abtreibungen verbesserten die Möglichkeiten der Frauen, sich gegen Schwangerschaften und für weniger Kinder zu entscheiden. Mit der Ausweitung der Bildung für Mädchen und der Lohnarbeit von Frauen veränderten sich die patriarchalen Beziehungen und stärkten die Macht der Frauen in der Familie. Der schwindende Einfluss von Religion und aufkommende feministische Bewegungen ermöglichten auch proletarischen Frauen, sich mehr Kontrolle über ihr Leben zu verschaffen. In der Folge heirateten Frauen seltener und später, und sie bekamen weniger Kinder.
Diese Prozesse liefen zunächst in den kapitalistischen Kernländern ab, danach beschleunigt auch in später industrialisierten Staaten wie Südkorea oder China, und nun laufen sie auch in Ländern wie Indien und Indonesien. Die Weltbevölkerung, bis ins 18. Jahrhundert nur leicht steigend, wuchs dann rasant auf heute über acht Milliarden Menschen an, aber sie sinkt bereits in etlichen Regionen und wird, wie erwähnt, noch in diesem Jahrhundert insgesamt zurückgehen. Der Ökonom Philip Pilkington spricht mit Bezug auf den Zusammenhang von Proletarisierung und sinkender Fertilität vom «tendenziellen Fall der Bevölkerungsrate» im Kapitalismus, analog zum von Karl Marx angenommenen «tendenziellen Fall der Profitrate», dem geringer werdenden Profit im Verhältnis zum eingesetzten Kapital.
Krise der sozialen Reproduktion
In China verbinden sich die Folgen des Geburtenrückgangs mit weiteren Faktoren zu einer umfassenden Krise der sozialen Reproduktion – in Familie und Gesellschaft. Aufgrund der Wirtschaftskrise der letzten Jahre haben sich die Lebensbedingungen der Familien verschlechtert. Wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten müssen weiter beide Elternteile – oft in verschiedenen Städten – durchgehend Lohnarbeit nachgehen und dort auch Überstunden machen. Die Belastung der Frauen durch nichtentlohnte Reproduktionsarbeit hat zuletzt weiter zugenommen, wie chinesische Zeitverwendungserhebungen belegen.
Insbesondere migrantische und andere proletarische Familien haben immer mehr Probleme, notwendige Sorgearbeit zu erledigen oder erledigen zu lassen. Da häufig beide Elternteile aus Einkindfamilien kommen, müssen viele Frauen mittleren Alters neben ihrem Kind auch zwei Grosselternpaare versorgen. Mittelklassefamilien, die genügend Mittel haben, stellen weiter migrantische Hausangestellte zur Erledigung von Sorgearbeit ein. Proletarische Familien können sich das kaum leisten. Im Resultat sind Eltern und Kinder gestresst, Streit eskaliert. Zahlreiche Frauen lassen sich nicht zuletzt wegen häuslicher Gewalt scheiden.
Die Familie, die «Keimzelle» der kapitalistischen Gesellschaft und (Re-)Produktionsort der Arbeitskraft, ist auch der Ort, an dem die Auseinandersetzung um das (weniger) Kinderkriegen und die Verteilung der Reproduktionsarbeit ausgetragen wird. Proletarische Frauen, deren Macht durch die Lohnarbeit und das teilweise Aufbrechen der patriarchalen Verhältnisse gewachsen ist, wehren sich nicht nur gegen ihre Doppelbelastung durch Lohn- und Hausarbeit und die enormen Lasten der Kindererziehung. Sie beanspruchen auch mehr Kontrolle über ihr Leben.
Konkret bedeutet dies, dass sich viele Frauen in China auch seit Aufhebung der Einkindpolitik 2015 weiter weigern, unter diesen Bedingungen Kinder zu gebären, und wenn doch, dann meist nur eines. Von 2010 bis 2020 ist zudem das durchschnittliche Heiratsalter von Frauen von 25 Jahren auf 29 Jahre gestiegen, denn Frauen haben in jungen Jahren andere Prioritäten, als eine Familie zu gründen. Die Heiratszahl ist deutlich zurückgegangen, Scheidungen haben zugenommen.
Gefährdung der Wirtschaft
Die Krise der Familie und der Mangel an Kindern untergraben die Fundamente des chinesischen Kapitalismus. Dieser beruht auf der Ausbeutung «billiger» Arbeitskräfte in Fabriken, auf dem Bau und im Dienstleistungssektor ebenso wie auf der stetigen Verfügbarkeit nichtentlohnter reproduktiver Arbeit. Gedeckt wurde der Bedarf seit den achtziger Jahren durch in die Städte migrierende Arbeitskräfte vom Land. Bis heute wuchs ihre Zahl auf etwa 300 Millionen.
Das ländliche Arbeitskräftereservoir ist auch aufgrund der seit langem geringen Geburtenzahlen weitgehend erschöpft, und die vorhandenen Wanderarbeiter:innen sind nun nicht mehr so «billig» zu haben. Ihre relativ niedrigen Löhne hingen bisher an ihrem prekären Status in der Stadt und der kostengünstigen Reproduktion – von der Kindesaufzucht bis zur Altenversorgung – auf dem Land, wo die Preise niedriger sind und die «zurückgelassenen» und die älteren Frauen die nichtentlohnte Reproduktionsarbeit machen. Unternehmen und Haushalte mussten bisher also keine Löhne zahlen, die Wanderarbeiter:innen ein dauerhaftes Leben in der Stadt mit hohen Kosten für Lebensmittel, Wohnen, Bildung und Gesundheit ermöglichen. Heute bleiben die Wanderarbeiter:innen jedoch oft in der Stadt und holen auch ihre Familien dorthin. Zudem sind selbst die Preise auf dem Land gestiegen. Die Wanderarbeiter:innen sind also auf höhere Löhne angewiesen und «teurer» geworden.
Zu all dem kommen weitere Folgen der Einkindpolitik. Diese hat nicht nur die demografische Wende zu weniger Geburten beschleunigt, sondern auch aufgrund der patriarchalen Präferenz für männlichen Nachwuchs zu einem Überhang von dreissig Millionen Männern geführt. Auf dem Heiratsmarkt ist der Brautpreis, den die Familie des Bräutigams zahlen muss, deutlich gestiegen, weswegen sich viele Familien verschulden. Zudem altert die Gesellschaft schnell. In Zukunft müssen immer weniger junge Menschen die Mittel bereitstellen, um immer mehr alte Menschen zu versorgen. Das wiegt umso schwerer, als es keine ausreichenden staatlichen Sozialsysteme gibt. Die für die städtische Bevölkerung geltenden sozialistischen Wohlfahrtsleistungen wurden ab den neunziger Jahren weggekürzt, und die seit den 2000er Jahren eingeführten Sozialsysteme bleiben unterfinanziert, besonders die für Wanderarbeiter:innen.
Ein Kernproblem der Regierung ist die Geschwindigkeit, mit der sich die Probleme verschärfen. Ihre Gegenstrategien müssten schnell wirken. Zur Abfederung des Arbeitskräftemangels fördert sie die Automation in den Betrieben, um den Arbeitskräftebedarf zu senken. Sie erlaubt die Verlagerung chinesischer Fabriken ins Ausland, um dort auf «billige» Arbeitskräfte zugreifen zu können. Zudem will sie das Renteneintrittsalter heraufsetzen, um die Effekte der Alterung der Gesellschaft zu bremsen. All dies soll Linderung bringen, löst die Probleme jedoch nicht.
Die Regierung könnte ausländische «Gastarbeiter:innen» anwerben, ist dazu jedoch, von Ausnahmen abgesehen, noch nicht bereit. Fraglich ist auch, ob sich genügend ausländische Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt Chinas finden liessen. Eine merkliche Verbesserung der Bedingungen für Frauen, die sich für Kinder entscheiden sollen, ist ebenfalls nicht zu erwarten, trotz des angekündigten Kindergelds. Die Regierung wird die Sozialausgaben wohl weiter erhöhen müssen, aber angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs und der Staatsverschuldung ist sie kaum in der Lage, eine deutliche Steigerung zu finanzieren.
Fortgesetzter Widerstand
So bleiben der Regierung wenige Massnahmen, die für mehr Kinder sorgen sollen. Sie führt Kampagnen durch, die junge Frauen zum früheren Heiraten und zum Gebären von mehr Kindern bewegen sollen. Sie hat Scheidungen gesetzlich erschwert und Obergrenzen für Brautpreise eingeführt, um mehr Heiraten durchzusetzen. Zudem wirbt sie für eine «traditionelle» Rolle der Frau in der Familie, weil sie sich davon mehr Kinder verspricht.
Viele Frauen wollen jedoch nicht «wieder an den Herd zurück». Sie weisen nicht nur die Forderung nach mehr Kindern zurück, sie kratzen gar an der Institution der Ehe und wenden sich offen gegen Sexismus. Dies findet Ausdruck in den sozialen Medien und der verbreiteten feministischen Literatur. Während die Regierung gewisse Zugeständnisse macht, wie die Aufnahme von sexueller Belästigung und häuslicher Gewalt in die Gesetzgebung, orchestriert sie gleichzeitig den antifeministischen Backlash im Internet und bekämpft den politischen Feminismus durch Verhaftungen und Strafen. Viele bekannte Feministinnen mussten deswegen das Land verlassen.
Ob sich die Regierung in Zukunft gegen die feministische Mobilisierung durchsetzen und Frauen dazu bringen kann, mehr Kinder zu bekommen, bleibt abzuwarten. Den «tendenziellen Fall der Bevölkerungsrate» wird sie kaum beenden können. Und für den chinesischen Kapitalismus könnte sich die Krise von Fertilität und sozialer Reproduktion noch als gefährlicher erweisen als Schuldenprobleme, Konjunkturschwankungen oder geopolitische Konfrontationen.
Chinas Geburtenpolitik: Einst viele, dann eins, jetzt drei
Als Chinas Regierung Ende Juli die Zahlung von Kindergeld ankündigte, um die Geburtenzahl zu erhöhen, zog das sarkastische Kommentare in den sozialen Medien nach sich, etwa: «Wird die ‹Aufzuchtgebühr›, die für zu viel geborene Kinder gezahlt werden musste, nunmehr erstattet?» So hiess bis 2015 die staatliche Geldstrafe für diejenigen, die mehr als ein Kind bekamen. Diese konnten ausserdem die Arbeitsstelle verlieren; manchen wurde das Haus abgerissen, und Mütter wurden öffentlich gebrandmarkt und zur Sterilisation gedrängt.
Nachdem die Regierung der Kommunistischen Partei Chinas bis in die sechziger Jahre verlangt hatte, dass Frauen möglichst viele Kinder «für den Aufbau des Sozialismus» gebären, gelangte sie dann zur Einsicht, dass hohe Fertilitätsraten von sechs und mehr Kindern die wirtschaftliche Entwicklung des Landes bedrohten. Wie in anderen Ländern befürchtete man eine Bevölkerungsexplosion und daraus folgend weitere Hungersnöte. Folglich propagierte sie in den siebziger Jahren voreheliche Keuschheit sowie späte Eheschliessungen und versuchte, die Zahl der Geburten mit Kampagnen zu senken.
Bis 1980 sank Chinas Fertilitätsrate auf durchschnittlich drei Kinder pro Frau. Zu der Zeit begannen die Wirtschaftsreformen, und die Regierung befürchtete, dass mit den Lockerungen staatlicher Kontrollen und der Verteilung des Landes an bäuerliche Familien eine neue Kinderwelle drohe und diese das wirtschaftliche Wachstum bremsen würde. Deswegen verkündete sie die sogenannte Einkindpolitik: Jeder Familie war ab 1980 nur ein Kind erlaubt, für Familien auf dem Land und für Angehörige von Minderheiten gab es Sonderregelungen. In den ersten Jahren wurde die neue Politik mit den oben genannten Massnahmen rigide durchgesetzt, ab den neunziger Jahren dann teilweise gelockert.
Die Fertilitätsrate sank bis 1990 auf 2,7 und bis im Jahr 2000 auf 1,6. Seitdem ist sie konstant niedrig geblieben. Als Anfang der zehner Jahre die Zahl der als Arbeitskräfte verfügbaren Menschen zu sinken begann, sah die Regierung erneut die Wirtschaft bedroht und erlaubte ab 2015 zwei Kinder pro Familie. Die Zahl der Geburten sank jedoch weiter. Die Regierung erlaubte noch im selben Jahr drei Kinder pro Familie und hat seitdem natalistische Kampagnen lanciert, bisher mit mässigem Erfolg. 2024 gab es zwar etwas mehr Geburten, aber das wird lediglich auf das für Neugeborenenschicksale angeblich günstige «Jahr des Drachens» zurückgeführt.