Krieg in Gaza: Nicht nur eine moralische Frage

Nr. 39 –

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Israel begeht einen Genozid an den Palästinenser:innen in Gaza: Zu diesem Schluss kommt nun auch eine Untersuchungskommission des Uno-Menschenrechtsrats, die ihren Bericht letzte Woche veröffentlicht hat. Sie schliesst sich damit einer wachsenden Zahl von namhaften Expert:innen und Organisationen an, darunter Amnesty International und der israelische Genozidforscher Omer Bartov.

In der Schweiz wird indes noch immer diskutiert, ob man den Begriff «Genozid» im Zusammenhang mit Israels Kriegsführung in Gaza überhaupt benutzen soll. Dabei zielt diese aufgeheizte Debatte schon lange am Wesentlichen vorbei.

Natürlich: Die Frage, ob in Gaza ein Genozid stattfindet, der aus rein juristischer Sicht nicht automatisch schwerwiegender ist als die Tatbestände Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wird nur ein Gericht klären können. Doch um den Horror, den Israels Krieg in den letzten zwei Jahren über die Menschen in Gaza gebracht hat, nachzuvollziehen, reichen einige Fakten: über 65 000 Tote, davon 70 Prozent Frauen und Kinder; 92 Prozent aller Wohnhäuser sind zerstört oder beschädigt sowie 94 Prozent aller Spitäler. Im August hat die IPC-Initiative in Gaza eine – von Israel herbeigeführte – Hungersnot festgestellt.

Doch für die Frage, was politisch aus einem Bericht wie dem der Uno-Kommission folgen muss, ist irrelevant, ob der Genozid eindeutig festgestellt ist oder nicht. Die Völkermordkonvention verpflichtet alle Mitgliedstaaten, allein schon bei einem Verdacht alles ihnen Mögliche zu tun, um das Geschehen zu stoppen. Und bereits im Januar 2024 stellte der Internationale Gerichtshof in Den Haag fest, dass ein Genozid in Gaza «plausibel» sei. Ein Warnruf, der insbesondere Israels Partner im Westen hätte erreichen sollen.

Dass Deutschland erst vor einem Monat die Waffenlieferungen an Israel einschränkte, dass die Schweiz weiterhin im Rüstungsbereich stark mit Israel kooperiert (siehe WOZ Nr. 22/25), ist daher nicht einfach ein moralischer Skandal. Es könnte juristische Konsequenzen haben: Deutschland wie die Schweiz könnten mit der Frage konfrontiert sein, ob sie sich der Beihilfe zum Genozid schuldig gemacht haben. Das hätte gerade in der Schweiz, immerhin Depositarstaat der Genfer Konventionen, längst alle aufrütteln sollen, denen der Erhalt des Völkerrechts ein Anliegen ist.

Israel lässt sich vom jüngsten Uno-Bericht selbstverständlich nicht beirren. Regierungschef Benjamin Netanjahu treibt für seinen Machterhalt nicht nur den Krieg in Gaza gnadenlos voran, sondern weitet seine Aggressionen weiter aus. Der jüngste Angriff auf die Verhandlungsdelegation der Hamas in Doha war ein Schock für die arabischen Golfstaaten, die sich sicherheitspolitisch auf die USA verlassen hatten.

Viel klarer als mit dem Angriff in Doha hätte Israel nicht zeigen können, dass es an einer diplomatischen Lösung nicht einfach uninteressiert ist, sondern sie mutwillig torpediert.

Während die Schweiz zögert, haben Anfang Woche im Vorfeld der Uno-Generalversammlung mehrere westliche Staaten Palästina als Staat anerkannt. Viel mehr als ein Zeichen ist dies nicht. Die Uno-Mitglieder müssten Israel stattdessen mit konkreten Massnahmen unter Druck setzen – wie es derzeit erst vereinzelte tun, etwa Slowenien, das ein Waffenembargo gegen Israel und Einreisesperren gegen zwei ultrarechte Minister verhängt hat. Oder Irland, das ein Gesetz zum Verbot des Handels mit illegalen Siedlungen in den besetzten Gebieten verabschiedet hat.

Denn es geht bei diesem Krieg schon lange nicht mehr um die Hamas – von der Befreiung der Geiseln ganz zu schweigen. Es geht, neben Netanjahus persönlichen Interessen, um die Auslöschung Gazas und wohl bald auch um eine offizielle Annexion des Westjordanlands. Navi Pillay, die den jüngsten Uno-Bericht mitverfasst hat, warnte denn auch eindringlich, dass die Absicht, das palästinensische Volk als Ganzes zu zerstören, auch Israels Handlungen im Westjordanland leiten könnte.