Kultbar: Ein zweites Daheim bei Hildi und Rolf
Diese Kneipe ist eine lebende Legende: Das «Go-in» in der Badener Altstadt hält noch immer einen Platz am Tresen frei. Eine Hommage.

Drei Bier sind schon gezapft an diesem Donnerstagmorgen um halb elf, einer trinkt Red Bull. An der runden Theke sitzen drei Männer mittleren Alters. Der erste löst ein Kreuzworträtsel, der zweite bearbeitet ein Rubbellos, der dritte trägt Hut und schweigt. Ein vierter hat an einem Tisch Platz genommen. Der Raum ist so klein, dass alle miteinander reden können, ohne laut werden zu müssen. Es fällt allerdings kein überflüssiges Wort, dafür kennen sich die Anwesenden schon zu gut. Denn das hier ist so etwas wie ihr Wohnzimmer mit Zapfhahn.
Barfrau Alex Schrepfer hat heute ihren Letzten nach achtzehn Jahren, in denen sie immer mal wieder hinter dieser Theke gestanden ist. Die 36-Jährige hat sich in Schale geworfen mit weissem Hemd und Bundfaltenhose, aber das ist ironisch gemeint. Alex hat eine Flasche Wodka mitgebracht, «den besten aus Russland, aus einem Restkontingent, bevor das Einfuhrverbot in Kraft trat». Wer mag, kriegt zum Abschied einen Doppelten spendiert. Der Mann am Kreuzworträtsel hat heute blaugemacht, um Alex bei ihrem letzten Dienst Gesellschaft zu leisten: «Habe ein bisschen ins Telefon gehustet», sagt er mit schelmischem Grinsen. Auch er hat zur Feier des Tages einen Wodka dabei – den gleichen. Sie sind sich einig: Es ist der beste.

Der schweigsame Herr mit Hut sagt jetzt doch etwas: «Gib mir noch eine Stange.»
Das «Go-in», diese Raucherbar in einer Seitengasse der Badener Altstadt, döst noch im Halbschlaf. Ein paar Kaffee-, Wein- und Biertrinker:innen werden noch hereintröpfeln, das Tagesgeschäft wird heute mau. Doch das täuscht, denn diese Kneipe ist eine lebende Legende. Ebenso ihre Gründer:innen, die sie inzwischen nicht mehr führen. Die Geschichte des «Go-in» spielt an verschiedenen Orten und ist wild und zärtlich und unverzichtbar für viele Menschen in dieser Stadt. Die einen wollten die Vorgängerbar einst schliessen lassen, die anderen gingen auf die Strasse, um ihr Ende zu betrauern. Ihre Reinkarnation wurde gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Etliche betrachten das «Go-in» noch immer mit gerümpfter Nase. Einige halten ihm seit Jahrzehnten die Treue. Für nicht wenige ist es ein zweites Daheim.
Von der Bank in die Beiz
Rolf Gnädinger ist ein ruhiger Typ, der eine unaufdringliche Autorität ausstrahlt. Der 68-Jährige ist der Mann hinter dem «Go-in», er wirtete während vierzig Jahren. Seit Anfang 2024 ist er im Ruhestand und hat seine ehemalige Bar verpachtet. Heute wirkt er deutlich jünger als zu Zeiten, als er noch hinter der Theke stand. Sein Lebenswerk hatte ihm einiges abverlangt. «Er hatte ja nie Ruhe vor diesem Spunten», sagt Barfrau Alex. Und das wollte er auch nicht. Rolf Gnädinger mag es, wenn die Feste gefeiert werden, wie sie fallen. Und er hat ein Herz für Menschen in prekären Lebenslagen. Bei ihm fanden diejenigen einen Platz, die sonst nirgends hinkonnten. Die Bar führte er mit seiner Frau Hildi, doch diese möchte im Hintergrund bleiben. Deshalb beginnt diese Geschichte mit ihm.
Eigentlich hatte Rolf Gnädinger die Welt sehen wollen. In eine Metzgers- und Wirtefamilie hineingeboren, absolvierte er nach einer Banklehre die Ausbildung zum Hotelier. Dazwischen jobbte er immer wieder in der damaligen Bar seiner Eltern in der Badener Rathausgasse. Bevor er sich an der Hotelfachschule einschrieb, begann er mit achtzehn eine Kochlehre im «Montreux Palace». «Da waren fünfzehn Köche, die sich alle primitiv und frauenfeindlich aufführten», erinnert er sich. «Diese Mentalität wollte ich keinesfalls übernehmen.» Nach zwei Wochen schmiss er die Lehre hin. Später nahm er auf den Bermudas eine Stelle als Kellner an, um für die Hotelierausbildung sein Englisch zu verbessern. Paradiesische Umgebung, guter Lohn, Wäschedienst, Whisky Cola für einen Dollar. Aber die Arbeit war stupid und stressig: Tellerservice für 36 Sitzplätze, Mehrgangmenü-Schnellabfertigung. Nach zwei Wochen kündigte er seinen Einjahresvertrag und stand wieder in der Bar seiner Eltern.

Am wohlsten fühlte er sich dort, wo unterschiedliche Milieus zusammenkamen. Während seines Servicepraktikums im «Dolder Waldhaus» in Zürich mischten sich vornehme Hotelgäste mit Klient:innen aus der nahen psychiatrischen Klinik. «Es war genial dort», sagt er. Mit allen Menschen umzugehen wissen und jedem mit dem gleichen Respekt zu begegnen, das sollte sein Markenzeichen werden.
Als er das Hotelierdiplom in der Tasche hatte, waren Tourismusfachleute dringend gesucht. Ihm stand buchstäblich die Welt offen. «Doch dann kam ich und durchkreuzte seine Pläne», sagt Hildi mit einem feinen Lächeln.
Rolfs Schwester hatte das elterliche Restaurant übernommen und Hildis Schwester als Kellnerin eingestellt. Die beiden Familien freundeten sich an. An einem gemeinsamen Abend in grosser Runde seilten sich Rolf und Hildi ab und zogen allein in die Bento-Bar zwei Ecken weiter, die später noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Seit diesem Abend sind sie ein Paar.
Ein Jahr später übernahmen sie gemeinsam die Bar von Rolfs Eltern, das «Quick», als diese 1983 aufhörten. Er war damals 26, und Hildi sprang von einem «Schoggijob in der Verwaltung» ins kalte Wasser. «Zudem lief der Pachtvertrag nur noch eineinhalb Jahre, weil das Haus abgerissen werden sollte», sagt Rolf. Es wurden elf prägende Jahre daraus.

Im «Quick» war das Bier günstiger als anderswo, und in der Ecke stand eine gut sortierte Jukebox, die von Hildi umsichtig kuratiert wurde. Der Jugend, die an vielen Orten nur geduldet war, standen die Türen weit offen. Eine damalige Teenagerin erzählt: «Im ‹Quick› durfte man einfach sein. Manchmal sassen wir zu fünft an einem Tisch, und nur einer holte hin und wieder was zu trinken.» Das habe Rolf und Hildi nie gestört. «So verbrachten wir ganze Nachmittage mit Kartenspielen.» Abends wurde das Publikum gemischter und das Treiben bunter. «Alle waren willkommen, das war Rolf wichtig», sagt Lucia Ferrari, die auch häufig im «Quick» verkehrte. «Das Faszinierende war, dass auch wirklich alle kamen, der Typ in Anzug und Krawatte ebenso wie der Junkie. Und keiner lästerte über den anderen.» Die 63-jährige Lucia ist «eine Urbadenerin», sie war ab 1982 in der lokalen Besetzer:innen- und alternativen Kulturszene aktiv. Den Werdegang von Gnädingers hat sie von Anfang an miterlebt, erst als Gast, später als langjährige Angestellte. Ihre WG pflegte damals ein Sonntagsritual: «Einer kochte, der Rest hing im ‹Quick› ab und flipperte. Wenn das Essen fertig war, rief man in der Bar an und sagte: ‹Rolf, schick sie nach Hause, in zehn Minuten gibts Znacht!›» Nach dem Essen schauten alle den «Tatort», danach gings bis Mitternacht wieder ins «Quick».
Weil das Lokal abends meist rappelvoll war, bildete sich im geräumigen Gang zu den WCs ein zusätzlicher «Aufenthaltsraum». Dort wurde gern gekifft, solange das Barpersonal an der Front beschäftigt war. «Auf den Klos wurde manchmal auch gedrückt», sagt Lucia, also gefixt, «und die Behörden wussten das.» Rolf habe der Stadt viele Probleme abgenommen, findet sie: «So mussten Herr und Frau Meier, die sonntags in die Kirche gingen, diese Leute nicht sehen.» Manchmal hätten sie in den WCs Spritzen gefunden, sagt Rolf. «Aber wir hatten keine Chance, das Fixen zu verhindern.» Bis heute haben weder die Stadt Baden noch der Kanton Aargau einen Konsumationsraum für Suchtkranke. Dafür fehle die gesetzliche Grundlage, sagen die Behörden auf Anfrage.
Das lokale Gewerbe lehnte sich gegen die «Quick»-Szene auf. Die Inhaber:innen der umliegenden Geschäfte starteten eine Unterschriftensammlung für die Schliessung der Kneipe. «Der Tenor war: ‹Wir haben Angst um unsere Kinder, die bei euch abstürzen könnten›», erzählt Rolf. «Ich schrieb dann halt Briefe zurück.» Seien die Empörten mal persönlich vorbeigekommen, hätten sie gesehen, dass es doch nicht ganz so schlimm gewesen sei. «Wir haben übrigens im Leben nie gekifft», sagt Hildi, «aber wir verurteilten es nicht.»

Rauschende Abschiedsparty
Als der Abrisstermin für das Gebäude und damit das Ende des «Quick» 1994 feststand, machten sich unter den Gästen Wehmut und Ratlosigkeit breit: Wo sollten sie in Zukunft einkehren? Es gab keinen Ort mehr wie diesen. Eine Woche vor dem Abschied zogen 300 junge Leute mit Fackeln und Transparenten durch die Stadt und forderten einen neuen Treffpunkt. Das Schweizer Fernsehen berichtete darüber. Zum Abschluss wurde einen Abend lang das vornehme Stadtcasino besetzt. Der Verlust des «Quick» trug dazu bei, dass die Politik in Sachen Jugendräume vorwärtsmachte – zwei Jahre später sollte in Baden das erste vollwertige Jugendkulturlokal den Betrieb aufnehmen.
Die rauschende Abschiedsparty an Silvester 1994 wurde vom damaligen Regionalsender Rüsler TV begleitet. «Alle, die jemals im ‹Quick› verkehrt hatten, kamen noch einmal», erinnert sich Lucia. Die Gäste hätten um ein Andenken gebeten, erzählt Rolf. «Die Bar abschrauben ging schlecht, aber ich sagte: ‹Ihr könnt die Reklameschilder mitnehmen.› Dann gab ich ihnen eine Leiter und Schraubenzieher.»

Mit dem Abriss des Gebäudes mussten Gnädingers auch die Wohnung im ersten Stock räumen, wo sie mit ihren inzwischen drei Kindern gelebt hatten. In Baden fanden sie kein geeignetes Pachtlokal mehr. So wagten sie Mitte April 1995 den Sprung ins Ungewisse. In Frauenfeld waren sie auf ein ehemaliges Dancing mit Platz für Partys und Wohnmöglichkeit im oberen Stock gestossen. Der ältere der beiden Buben kam im Thurgau in den Kindergarten. Und für ihre Tochter bauten sie den Wohnbereich rollstuhlgängig aus. Sandra, die inzwischen verstorben ist, war mit dem seltenen Aicardi-Syndrom zur Welt gekommen: Sie konnte weder sprechen noch sich bewegen und verbrachte ihr Leben liegend. «Sie konnte nur lachen und weinen», sagt Hildi. «Wir wälzten damals stundenlang Bücher in Bibliotheken, um an Informationen zu kommen», sagt Rolf, «denn niemand konnte uns etwas über diese Krankheit sagen.» Essen war eine der Freuden des Mädchens. Weil es Stunden dauerte, Sandra mit Nahrung zu versorgen, betreuten Gnädingers ihre Tochter lange Vollzeit selbst. «Hätten wir sie ins Heim gegeben, wäre sie sondiert worden, weil man dort nicht so viel Zeit aufwenden kann», ist Hildi überzeugt, «und sie hätte das Essen verlernt.» Während sieben Jahren machte das Paar nie Ferien. Tagsüber betreuten die beiden Sandra und die zwei Buben, abends stand jeweils eine:r hinter der Bar. Nur montags nahmen sie frei.
Zur Eröffnung in Frauenfeld reisten über sechzig Leute aus Baden an. Und auch danach hätten sie an manchen Abenden «mehr Badener als Einheimische als Gäste gehabt», erinnert sich Hildi. Aber die mussten damals um 22 Uhr auf den Zug, um noch heimzukommen. «Und der letzte Bus ins Umland von Frauenfeld fuhr um 20 Uhr», sagt Rolf. «Viele hier haben auch gefremdelt», meint Hildi. «Die dachten: Was wollen die denn hier?» Die beiden versuchten es mit Technopartys ohne Eintritt, was die Einheimischen allerdings fast noch mehr abschreckte. Das Lokalblatt rapportierte «zwei, drei Männer an der Bar» und einen verloren wirkenden DJ an der ersten «Trance Night». Es lief überhaupt nicht, Gnädingers legten drauf. Den Pachtvertrag hatten sie über fünf Jahre abgeschlossen.
Nach ein paar schwierigen Wochen ging Rolf in Baden einen Kaffee trinken und erfuhr von einem früheren Gast, dass die Bento-Bar an der Mittleren Gasse frei wird. Dort hatten Rolf und Hildi einst ihr erstes Tête-à-Tête gehabt. «Soll ich die ‹Bento› kaufen und euch vermieten?», habe der Gast gefragt. Nach der Besichtigung wollten sie zuerst absagen: zu klein und nicht rentabel. Sie erkannten aber auch das Spezielle: An der grossen runden Theke kann jeder mit jedem ins Gespräch kommen. Und der kleine Raum im ersten Stock bot sich für weitere Nutzungen an. Sie beschlossen, das Haus selbst zu kaufen. «Ich rief um halb sechs Uhr abends bei der Bank an und sagte: ‹Morgen früh brauche ich das Geld›», erzählt Rolf. Da man ihn noch von der Stifti kannte, klappte das. Innert weniger Tage war der Kauf vollzogen. Mit dem Frauenfelder Vermieter fanden Gnädingers eine einvernehmliche Lösung. Dreieinhalb Monate nach ihrem Aufbruch in den Thurgau waren Rolf und Hildi zurück in Baden.
Die Anteilnahme war echt
Nach Sanierungsarbeiten eröffneten sie im September 1995 die ehemalige Bento-Bar: das heutige «Go-in». Die Rückkehrparty knüpfte nahtlos ans Abschiedsfest an. «Die Mittlere Gasse war gestossen voll», sagt Lucia, die inzwischen für Gnädingers hinter der Theke stand. Während der nächsten Monate sollte der Laden noch jeden Abend aus allen Nähten platzen.
Mit den Jahren wandelte sich das Publikum. Zu einem guten Teil wurde das «Go-in» zur familiären Stube für Menschen mit schwerem Rucksack, die zu unorthodoxer Zeit ein Bier oder ein offenes Ohr brauchten. Der Konsumationszwang blieb auf tiefem Niveau: Wer einen Kafi bestellte, durfte stundenlang sitzen bleiben. Die Beziehung zu den Gastgeber:innen vertiefte sich. «Man ging nicht ins ‹Go-in›, sondern man ging zu Rolf oder zu Hildi», sagt Lucia. Hildi erwähnt einen Stammgast: «Roli A. kam jeden Tag. Wenn er mal nicht auftauchte, fragte man sich: Was ist los, ist er krank?» Viele «liebi Cheibe» hätten bei ihnen verkehrt, sagt sie. Die Wirtsleute kannten von den meisten die Lebensgeschichte und von jenen, die nicht alt wurden, die Todesumstände. Noch immer stand an sechs Tagen pro Woche eine:r von ihnen abends hinter der Bar. Und das «Go-in» war verlässlicher als jede andere Anlaufstelle: Ausser an drei Tagen über Weihnachten hatte die Kneipe immer geöffnet, von Montag bis Samstag schon ab 9 Uhr.
«Bei den vielen schweren Geschichten ist es wichtig, eine gesunde Distanz zu wahren», sagt Rolf. «Man darf es nicht mit nach Hause nehmen.» Die Anteilnahme war trotzdem echt. «Rolf und Hildi waren an jeder Beerdigung ihrer Gäste», weiss Lucia, «und sie gehen auch heute noch.» Er habe jeweils die Todesanzeige ausgeschnitten und mit einem Kerzli im «Go-in» aufgestellt. «Jeder war ihm wichtig, jeder war wertvoll.»
Dabei waren manche der Einkehrenden keineswegs pflegeleicht. Für die Unangepassten, die Verhaltensauffälligen, die Versehrten war das Lokal oft die letzte Zuflucht. «Keiner wollte unsere Gäste», sagt Hildi. «So lief es bei uns immer gut.» Hinter der Bar brauchte es allerdings ein dickes Fell – und Durchsetzungsvermögen, wenn Grenzen gesetzt oder jemand rausgeworfen werden musste. Den Angestellten zahlten Gnädingers überdurchschnittliche Gastrolöhne.
Und was sagen die beiden zum Vorwurf, dass sie an der Alkoholsucht ihrer Gäste verdienten? Die Frage macht sie einen Moment nachdenklich. «Getrunken wird sowieso», sagt Rolf dann. «Und oft wird daheim ‹vorgeglüht›, bevor man in die Beiz kommt, weil es zu teuer wäre, sich erst dort zu betrinken.» Daher hätten sie kein schlechtes Gewissen. Zum Trinken animiert haben sie sicher niemanden. «Als ich meinen Alkentzug machte, teilte ich das Rolf mit», sagt Daniel Oehrli, ein langjähriger Gast. «Ab dann bekam ich nur noch alkoholfreies Bier. Und wenn mir einer partout ein ‹richtiges› spendieren wollte, sorgte Rolf diskret dafür, dass alkoholfreies in der Stange war.» Der Wirt selbst trinkt kaum und hat vor 37 Jahren mit dem Rauchen aufgehört.
Der erste Stock des «Go-in» war beliebt bei den Jungen: Dort stand der Töggelikasten, dorthin zogen sich Kantischüler:innen zum Lernen zurück, dort wurde die lokale Antifa gegründet (und, als die Neonazis aus dem Nelson Pub vertrieben waren, wieder aufgelöst). Ab 2019 entdeckten Dealer und Konsumentinnen den Raum allerdings auch für sich. Barfrau Lucia erzählt: «Einmal ging ich hinauf, um die Tische zu putzen. Da sass ein Typ mit einer riesen Line Koks vor sich, das gerollte Zehnernötli schon in der Nase. Er sprach von einem ‹Missverständnis›. Hätte er sich entschuldigt, hätte ich gesagt: ‹Pack dein Zeug ein und verschwinde.› So aber sagte ich: ‹Oh, da hat die Putzfrau aber nicht sauber gewischt›, und putzte die ganze Line weg. ‹Und jetzt bleibe ich eine Runde sitzen, denn wenn hier Zehnernötli durch die Luft flattern, wird mir sicher auch bald eins in die Nase fliegen!›»
Da sie weder Kapazitäten noch Lust hatten, den ersten Stock ständig zu kontrollieren, gaben Gnädingers diesen Raum schliesslich auf. Im November 2019 nagelte Rolf die Tür zu. Seither bleiben noch die 36,75 Quadratmeter im Parterre.
Über der Bar gab es drei möblierte Zimmer mit geteiltem Bad und WC, die Rolf und Hildi günstig vermieteten. Das mittelgrosse Zimmer etwa für 600 Franken im Monat, alle Nebenkosten und die Badreinigung inklusive. Auch Alex, die Wodkaliebhaberin und spätere Barfrau, war eines Tages froh darum. Sie erinnert sich: «Ich trank ein Bier im ‹Go-in› und erzählte Hildi vom Stress mit meinem Freund, mit dem ich zusammenwohnte. Da meinte Hildi: ‹Wir haben oben zurzeit eine Loge frei. Willst du sie dir mal ansehen?› – ‹Nein, danke›, sagte ich, ‹ich will lieber in Ruhe mein Bier austrinken. Das Zimmer nehme ich unbesehen.›» Sie blieb sieben Jahre.
Alle haben schöne Erinnerungen
Es ist 16.30 Uhr, Alex’ allerletzte Tagesschicht neigt sich dem Ende zu. Die Jukebox spielt «Temple of Love» von den Sisters of Mercy. Die Preise für die Musikwahl sind die gleichen wie vor 37 Jahren, als sich die erste CD in der Box drehte: ein Franken für zwei Songs, zwei Franken für fünf und fünf Franken für vierzehn Songs. Der Kreuzworträtselmann hat durchgehalten. Er sitzt noch am selben Platz, die Augen glasig, das Lächeln selig. Gegen 17 Uhr ist das «Go-in» plötzlich voll, vertrautes Hallo, kerniges Gelächter. Auch wenn das Lokal seit Ende Februar 2024 einen neuen Pächter hat: Die Gäste sind die gleichen geblieben, sie halten diesem Ort die Treue. Marc Diehl hat einen Platz an der Theke ergattert. «Ich war schon im ‹Quick›, als es noch von Rolfs Eltern geführt wurde», sagt der 61-Jährige. «Als ich Lehrling war, gab mir Rolf am Sonntagabend manchmal ein unverkauftes Sandwich mit, damit ich am Montag ein Znünibrot hatte.» Egal wen man fragt: Jede:r hat eine schöne Erinnerung parat, und niemand lässt etwas auf Rolf und Hildi kommen.

Als der Abendschichtler die Arbeit aufnimmt, setzt sich Alex neben Marc an den Tresen und bestellt den ersten Weisswein. Sie wirkt müde, doch die nächsten Stunden gehen noch steil. Alle werden sie noch kommen, um auf ihren Letzten anzustossen. Am Ende sind beide Wodkaflaschen geleert, und das maue Tagesgeschäft wurde in einem stolzen Abendumsatz ertränkt.
Seit sie im Ruhestand sind, gehen Rolf und Hildi noch zwei-, dreimal pro Woche im «Go-in» einen Kaffee trinken. Einfach nur Gäste zu sein, «das geniessen wir sehr», sagt Hildi. Und doch ist die Bar auch ihr zweites Daheim. In den Wirtsjahren pflegten sie ausserhalb der Familie keine privaten Kontakte, «denn wir arbeiteten, wenn andere freihatten», sagt Rolf. Auch für Hobbys blieb keine Zeit. Ihr Leben spielte sich hinter der Theke ab. So verwundert es nicht, dass sie hin und wieder dorthin zurückkehren.
«An Silvester 2024 hatten wir zu wenig Personal», erzählt Lucia, die auch für den neuen Pächter arbeitet. Rolf und Hildi tranken einen Tee an der Bar, als sie klagte: «Bis 20 Uhr schaffe ich es noch, aber dann muss ich zumachen, denn wir haben nur Dani für die Abendschicht, und allein geht das nicht.» Ziemlich spontan hätten die beiden gesagt: «Wir kommen und helfen Dani.» Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. «An diesem Abend machten die Beizen rundherum um 21 Uhr dicht», sagt Lucia. «Sie hatten schlicht keine Leute mehr. Alle hockten im ‹Go-in›.» Die Letzten, sagt Rolf, seien um 6 Uhr gegangen. Das Trinkgeld durfte Dani behalten.
Die Autorin verbrachte ihre Jugend in Baden. Im «Go-in» war sie am liebsten im ersten Stock. Rolf und Hildi sind für sie die langjährigsten Sozialarbeiter:innen der Stadt.