In mir die Wände (10) : Dazwischen

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Flüchtlingskind. Fremd. Unterschicht. Kein Schweizer. Das Nichtdazugehören wird zu deinem Rückgrat, Balanceakt, Kartenhaus. Es ist kein Gefühl, das mal kommt und mal geht. Es ist Alltag – eingeschrieben in die Orte, an denen du dich bewegst, in die Stimmen, die dich formen, in die Widersprüche, die dich grossziehen.

Im St. Galler Rheintal gab es Gruppen und Organisationen, die sich um Geflüchtete kümmerten – oft christliche Initiativen, getrieben von einer Mischung aus Nächstenliebe und Missionseifer. Samstags ging ich also mit anderen Kindern in den Wald: Wir bauten Hütten, lernten Knoten binden, sangen Lieder am Feuer. Zwischen den Bäumen, beim Bräteln, hörten wir Geschichten von einem Mann, der übers Wasser gehen konnte. Begeistert kam ich nach Hause und wollte die Botschaft Christi in unsere Wohnung tragen. Mein Vater, überzeugter Kâfir – Ungläubiger –, blickte nur über die Zeitung hinweg und lachte leise. Kurz darauf war ich kein Jungschar-Kind mehr. Was sollte das?

Dafür wurden unsere Besuche in den Derneks häufiger. Wir gingen regelmässig in solche Vereinslokale kurdisch-türkischer linker Gruppierungen, manchmal auch zu grösseren Veranstaltungen nach Zürich, Basel oder Lausanne. An den Wänden hingen rote Fahnen, Parolen in Türkisch und Kurdisch. Später versuchte ich, mit Eifer meinen Geschichtslehrer zu überzeugen. Doch er war so unbeirrbar wie mein Baba – fest verankert in seinem Weltbild. Figuren, die im Dernek als mutig, emanzipatorisch und aufrecht galten, waren im Unterricht Verbrecher:innen und Diktatoren:innen. Was war nur mit diesen Lehrern los?

Zwischen diesen Welten begann ich, mir eigene Orte zu schaffen, um einzuordnen, was sich in mir überlagerte: Stimmen, Sprachen, Zugehörigkeiten. Unter der Dachschräge in der Küche war einer dieser Orte. Irgendwann stand dort auch mein eigener Fernseher. In unserer Wohnung waren nur SRG und ORF zu empfangen – sonst nichts. 1994 spielte sich der kleine Verein SV Casino Salzburg überraschend bis in den Final des Uefa-Cups. Ich fieberte mit, sah jedes Spiel, jubelte, als sie Antwerpen, Lissabon und Frankfurt ausschalteten – und litt, als sie im Final an Inter Mailand scheiterten. An den Tagen nach den Spielen kam ich voller Begeisterung in die Schule – und merkte, dass niemand sonst das Spiel gesehen hatte. Das deutsche Privatfernsehen bot zu viele Alternativen. Keines der Kinder war auf die Idee gekommen, Salzburg zu schauen. Wie konnte man das verpassen?

Es ist schön, mit verschiedenen Einflüssen aufzuwachsen – auch wenn die Welten, in denen du dich bewegst, manchmal unüberwindbar getrennt scheinen. Aus all diesen Fragmenten, Sprachen und Erfahrungen begann sich langsam meine eigene Welt zu formen. Das Dazwischen wird deine Heimat. Später sollte ich Menschen treffen, die ein ähnliches Pendeln kannten – zwischen Kulturen, Sprachen, Erwartungen.

Zum Problem wird es erst, wenn du von aussen hörst, dass gewisse Teile von dir nicht dazugehören dürfen. Und es wird gefährlich, wenn das nicht mehr nur in Worten geschieht. Auch das gehörte zum Aufwachsen als migrantisches Kind im Schweizer Alltag der neunziger Jahre. Schon bald sollte ich erfahren, wie schmerzhaft Ablehnung tatsächlich werden kann.

In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Von oben herab.