350, 200, 20, 400. Ich addiere, subtrahiere, wäge ab, zähle dazu, ohne Papier, nur in meinem Kopf: Essen. Kleider. Ausflug. Neuer Fussball. Ich kürze. Streiche. Rechne wieder. Wird es reichen? Wie werden wir reich? Werde ich reichen?
Ich schwimme im Dunkel eines Meeres. Über mir, in der Ferne, ist ein Licht. Es regnet heftig, ich höre das dumpfe Pulsieren der Tropfen, wie sie auf die Oberfläche trommeln. Ich strecke mich nach dem Licht, glaube, es fassen zu können.
Wer das Fremde besonders intensiv fürchtet, macht diese Angst nicht selten zu seinem Massstab. Der legt fest, was Norm ist, was erlaubt und was verboten – und duldet keine Abweichung. Entscheidet, wer dazugehört und wer draussen bleibt.
Nach unserer Ankunft im Rheintal war der Park vor unserer Wohnung zu meinem Lebensmittelpunkt geworden. Wir spielten stundenlang Fussball, alberten herum, liessen Drachen steigen, fuhren Velorennen drumherum, krochen durch die Röhren.
An die ersten Wochen in der Schweiz habe ich kaum Erinnerungen. Für meine Mutter hingegen sind sie glasklar: Freunde meines Vaters holen uns an der Grenze ab und fahren uns quer durchs Land in den Jura.
Manchmal ist es nur ein Gerücht, ein Traum, eine Geschichte, die jemand erzählt hat: Dort drüben gibt es Arbeit. Dort drüben gibt es Frieden. Dort drüben gibt es eine Zukunft. Dort drüben kannst du Mensch sein.
Fünfzig Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland spricht Ozan Ata Canani über den Verlust vertrauter Menschen, das Gefühl des Dazwischenseins und die Gewalt, der Migrant:innen ausgesetzt sind.
Seit rund fünfzig Jahren macht Ozan Ata Canani Musik. Seine Lieder handeln von Erfahrungen mit Rassismus und Entfremdung, aber ebenso vom Miteinander, Zusammenkommen und Reichen der Hand.
Durch den Monat mit Ozan Ata Canani (Teil 2): Memleket nere?
Heimat ist für Ozan Ata Canani kein Ort, sondern eine Geschichte. In seinem Fall eine verwobene: zwischen der Türkei, wo er aufwuchs, und Deutschland, wo er seit fünfzig Jahren lebt.
Der deutsch-türkische Liedermacher Ozan Ata Canani lebt viele Identitäten gleichzeitig. Vielschichtigkeit begreift er als Stärke, für sich selbst – und für die Gesellschaft.