Filmfestival Locarno: Die Krux mit dem «Grünen Projekt»

Nr. 32 –

Filme können das Bewusstsein schärfen und radikale Utopien entwerfen. Aber Filme und ­Filmfestivals müssen auch kapitalistisch finanziert werden. Wie man in Locarno mit diesen Spannweiten umgeht.

«Ricardo et la peinture»
Auch Landschaften sind vergänglich: Ricardo Cavallo bewahrt sie in seinen Bildern auf. Und der Filmemacher Barbet Schroeder hat ihn nun in «Ricardo et la peinture» selbst verewigt.

Da ist der Kunstmaler, der nie heizt und zu allen Jahreszeiten die Fenster seiner Wohnung offen lässt, sodass es «keinen Unterschied zwischen drinnen und draussen gibt», was es ihm einfacher mache, hinauszugehen und zu malen. Der Elektroofen sei bloss für seine regelmässige Besucherin da, der er sein Regime ja nicht aufzwingen könne. Ricardo Cavallo malt felsige Landschaften und alte Bäume auf kleine quadratische Leinwände, die im unwegsamen Gelände besser zu transportieren sind, setzt diese dann aber zu meterhohen Gemälden zusammen. Wie nebenbei führt er in «Ricardo et la peinture», den ihm sein alter Freund, Regisseur Barbet Schroeder, gewidmet hat, durch die Kunstgeschichte – von der Chauvet-Höhle über Caravaggio und Velázquez bis zu den Werken der aufgeweckten Kinder, die seine Kunstschule besuchen. Cavallos Arbeit ist wie jede Kunst unter anderem dazu da, die vergänglichen Dinge, zu denen neuerdings auch die Landschaften zählen, zu bewahren. Kein Film hat mich dieses Jahr in Locarno mehr berührt.

Da ist aber auch der Tierdokumentarfilmer, der noch einmal zum Südpol reist, um seine Begegnungen mit den Pinguinen, die ihm bereits zu einem Oscar verholfen haben, noch einmal mit einem Publikum ohne Zugang zur letzten unberührten Natur des Planeten zu teilen. Nirgends könne man sonst noch Tiere filmen, die keine Angst vor Menschen hätten, raunt er und kreiert tatsächlich wunderschöne Schwarzweissbilder dieser Begegnungen. Leider widersteht er dann nicht der Versuchung, sich in viel zu vielen dieser Bilder als grau melierter Hemingway-Verschnitt in Szene zu setzen und alles zudem in einem profundösen Kommentar zu ertränken: «Die Leere erinnert mich daran, dass jede Spur des Lebens wertvoll ist.» Kein Film hat mich dieses Jahr mehr genervt als «Voyage au pôle sud» von Luc Jacquet.

Man gibt sich Mühe

Die Spannweiten und Konflikte sind allgemein beträchtlich. Man mag es als eine Art Schizophrenie des Systems diagnostizieren oder als inhärenten Widerspruch einfach akzeptieren: Der Film, und damit verknüpft Filmfestivals wie jenes von Locarno, ist in der besten Position, die Zerstörungen, die das kapitalistische System unserer Lebenswelt zufügt, zu dokumentieren, anzuklagen und ins Bewusstsein zu rufen. Gleichzeitig sind beide, Film wie Filmfestival, in einem solchen Mass auf externe Finanzierungen angewiesen, dass man sich von den Einflüssen jenes Kapitals oft nur schwer distanzieren kann. Es ist komplex. Konsequenterweise verzichtet das Locarno-Festival seit diesem Jahr auf die Behauptung, dass man klimaneutral sei.

«Man kann höchstens sagen, dass wir klimaaktiv sind», sagt Kommunikationschefin Fabienne Merlet. «Als Filmfestival auf null zu kommen, ist einfach unrealistisch.» Dabei gibt sich Locarno wahrnehmbar mehr Mühe als andere Festivals: Man engagiert sich bezüglich emissionsarmer Mobilität, indem man Velos anbietet und die Besucher:innen gratis im Tessiner ÖV fahren lässt. Allen Eingeladenen wird empfohlen, mit dem Zug anzureisen. Zudem funktioniere das Recycling mittlerweile recht gut, Ende Jahr wird die Energiebilanz publiziert, und man nehme die Inputs der jungen, klimabewussteren Mitarbeiter:innen ernst.

Letztes Jahr hat das Locarno-Festival in Zusammenarbeit mit dem WWF auch das «Locarno Green Project» lanciert. Zu dessen Hauptbestandteilen gehört erstens ein Green Film Fund, mit dem Projekte gefördert werden sollen, die produktionstechnisch wie inhaltlich ökologisch zukunftsweisend sind – allerdings ist dieser Green Film Fund aus Mangel an Sponsoren noch nicht zustande gekommen. Und zweitens der Pardo-Verde-Preis für einen Film aus allen offiziellen Sektionen, der «ein Umweltthema am besten widerspiegelt und dem Publikum neue und anregende Interpretationen bietet». Das ist auf interessante Weise schwammig und stellt sowohl die Programmverantwortlichen des Festivals als auch die Jurymitglieder nicht vor die einfachste Aufgabe: Die einen müssen ungefähr ein Dutzend Filme für den Pardo Verde nominieren, die anderen aus dieser sehr heterogenen Auswahl jenen auswählen, der für seine Beschäftigung mit Umweltthemen und Nachhaltigkeit ein Preisgeld von 20 000 Franken (dieses Jahr von Ricola gesponsert) verdient hat.

Klimaschonende Filme?

«Letztes Jahr war es einfacher, eine Liste von Filmen zusammenzustellen, die zum Pardo Verde passen», sagt die Programmverantwortliche Daniela Persico. So liefen 2022 etwa «E noite na América» von Ana Vaz (siehe WOZ Nr. 22/23) oder der erste Gewinner des Pardo Verde, «Matter out of Place» von Nikolaus Geyrhalter (siehe WOZ Nr. 12/23). Dieses Jahr reicht die Auswahl von den eingangs erwähnten Filmen bis zu formalistischen Kurzfilmen, vom Kinderanimationsfilm bis zu den experimentell-mythologischen Traummärchen «Dreaming and Dying» von Nelson Yeo und «Camping du lac» von Éléonore Saintagnan. Insgesamt fällt auf, dass dieses Jahr kein Film aus dem offiziellen Wettbewerb des Festivals vertreten ist, wie auch, dass kaum einer sich explizit auf die Klimakrise bezieht. «Das dominante Thema im Autor:innenkino dieses Jahres scheint nicht das Klima, sondern der Körper zu sein», erklärt Persico. Keinesfalls, betont sie, wolle man anfangen, Filme bloss aufgrund eines Themas auszuwählen.

Fast Ähnliches, könnte man sagen, gilt in diesem Zusammenhang für die Sponsorensuche: Weil Projekte wie der Green Film Fund – und da sind wir wieder beim ursprünglichen Dilemma – durchaus attraktiv für marktwirtschaftliche Akteure sind, die sich mit grünem Engagement schmücken oder von ökologischen Sünden gar reinwaschen möchten, wurden gewisse Sponsoren auch abgelehnt. «Das ist durchaus ein Risiko bei solchen Projekten», sagt Persico. Trotzdem seien diese bedeutsam, gerade weil der Film ein solches Potenzial habe. Das platonische Ideal eines Pardo-Verde-Anwärters sieht sie in einem Film, «der die Art verändert, wie wir die Welt sehen».

Dies bedinge zwar nicht direkt, dass ein Film auch so klimaschonend wie möglich hergestellt sein müsse, aber irgendwie hänge das dann doch zusammen. Und Persico stellt mit einem Verweis auf die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher (siehe WOZ Nr. 21/23) die interessante These auf, dass Filme, die nicht gängigen Herstellungskonzepten folgten, auch die Wahrnehmung der Zuschauer:innen verändern würden.

Auf die Piazzabühne geklebt

Glaubt Persico an neue Arten des Schauens, betont Jurymitglied Arami Ullón die Möglichkeiten von Filmen, die Zuschauer:innen nicht nur auf dramatisch zugängliche Weise mit dem Thema zu konfrontieren, sondern auch auf die intersektionalen Verstrickungen hinzuweisen. «Wir müssen auch über Generationenverhältnisse nachdenken, über Gender, Inklusivität und vieles andere.» Die uruguayische Regisseurin, die in Basel lebt, glaubt, dass ihre Juryarbeit die Art und Weise verändern wird, wie sie in ihrem eigenen Alltag Nachhaltigkeit erlebt. Natürlich sei der Film dazu nicht das einzige Medium, aber er habe das Potenzial, uns zu berühren und in fast allen Bereichen des Lebens nachhaltige Möglichkeiten sichtbar zu machen. Der Schlüssel dazu sei – und hier unterscheiden sich die Positionen der Programmverantwortlichen und der Filmemacherin – das Drama, die Emotionen, die Empathie.

Als sich die Piazza Grande am Montagabend von Luc Jacquet zu den antarktischen Pinguinen führen lassen wollte, unterbrachen zwei Aktivisten von Renovate Switzerland die Zeremonie, indem sie sich an der Bühne festklebten. Bevor sie von der Polizei abgeführt wurden, reichte man ihnen unter Applaus ein Mikrofon. Ihre Message: «This is fucking scary. Niemand ist mehr sicher.» Der Grünton, den sich Locarno in den letzten Jahren verpasst hat, mag noch nicht immer ganz mit der Realität harmonieren, aber er geht doch weit über blossen Schmuck hinaus.

Prekäre Arbeit im Zombiekapitalismus : Die Zukunft wird spannend, aber für wen?

«Sie sehen», sagte Ivo Kummer abschliessend, «es ist eine spannende und herausfordernde Zukunft, die vor uns liegt.» Vor uns? Sehr lustig, denn der abtretende Filmchef des Bundesamts für Kultur stand zusammen mit dem abtretenden Bundesrat Alain Berset vor den Medien, und gerade sie beide muss die spannende Zukunft der Filmpolitik ja nicht mehr kümmern.

Locarno steht ein wenig im Zeichen altgedienter Herren auf Abschiedstour. Neben den amtlichen Stammgästen Berset und Kummer geniesst auch Gastgeber Marco Solari nach 23 Jahren als Festivalpräsident seine letzte Runde. Der angekündigte Wechsel vom umtriebigen Lobbyisten Solari zur kapitalstarken Kunstmäzenin Maja Hoffmann rief hier bei manchen auch Irritationen hervor. Und selbst wenn das sicher nicht die grösste Baustelle ist: Vielleicht sorgt Hoffmanns Kunstverstand ja dafür, dass beim offiziellen Festivalplakat etwas mehr Stilbewusstsein einkehrt.

Bei den Filmen im Wettbewerb waren es an den ersten Tagen zwei Frauen, die den stärksten Eindruck hinterliessen: beide in tragenden Rollen, aber beide alles andere als in leitender Funktion. Da war erstens die Hauptfigur im neuen Spielfilm des Rumänen Radu Jude. Darin absolviert eine Produktionsassistentin (Ilinca Manolache) einen Sechzehnstundentag als Casterin für ein Auftragsvideo über Sicherheit am Arbeitsplatz. Zwecks Stressabbau postet sie zwischendurch satirische Tiktok-Videos mit vulgären frauenfeindlichen Tiraden – dank Digitalfilter tut sie das mit der Visage von Influencer Andrew Tate, dem Posterboy des Frauenhasses, der in Rumänien wegen Vergewaltigung und Menschenhandel angeklagt ist.

Zwei Jahre nach seinem Goldenen Bären für «Bad Luck Banging or Loony Porn» bestätigt Radu Jude hier seinen Ruf als Punk des gesellschaftskritischen Autorenfilms. So schamlos führt sonst niemand die alltägliche Schäbigkeit im Zombiekapitalismus vor. Selbst die Apokalypse ist nicht mehr, was sie mal war, das macht der Film schon im Titel klar: «Do Not Expect Too Much of the End of the World». Das Ende der Welt: auch nur ein leeres Verkaufsversprechen.

In einem noch prekäreren Segment von Kulturarbeit spielt der zweite Spielfilm der Griechin Sofia Exarchou. «Animal» heisst er, gemeint sind professionelle Partytiere wie Kalia (Dimitra Vlagopoulou). Als Animateurin ist Kalia auf einer griechischen Ferieninsel für Unterhaltung im Hotel und in der Disco besorgt, nicht gerade obere Preisklasse. Wir sind hier beim kreativen Wanderproletariat des Massentourismus, Kleinkunst für All-inclusive-Gäste. Das könnte voyeuristisch sein, aber der Film stellt seine Figuren nie aus, sondern lässt sich mitreissen von der ansteckenden Energie dieser schlecht bezahlten Partyqueen, die den Absprung nie geschafft hat.

Eine spannende Zukunft? Hätte Kalia auch gern. Stattdessen: «Yes Sir, I Can Boogie», so lange, bis sie ihr bodenloses Elend nicht mehr zu kaschieren vermag. Phänomenal, wie Dimitra Vlagopoulou das spielt: Stimmungskanone, bis sie implodiert.