Extremismus der Tat
«Anhand von ersten Abklärungen steht kein extremistisches Motiv im Vordergrund.»
Alles halb so schlimm also? Die Mitteilung der Zürcher Stadtpolizei bezieht sich auf den versuchten Brandanschlag auf die Synagoge Agudas Achim in Zürich Wiedikon vom vergangenen Samstagabend. Ein Passant, der zur Tatzeit zufällig vor Ort war, berichtete gegenüber «20 Minuten», der Eingang sei bereits mit Benzin vollgeschüttet gewesen. Eine Katastrophe konnte laut dem FDP-Gemeinderat Jehuda Spielman nur dank dem hauseigenen Sicherheitsdienst verhindert werden. Der Täter ergriff die Flucht, konnte aber im Verlauf der Nacht von der Kantonspolizei festgenommen werden. Laut Stadtpolizei handelt es sich beim 32-jährigen Schweizer um eine «psychisch labile» Person.
«Psychisch labil», «nicht extremistisch» motiviert: Macht das den Vorfall weniger schlimm? Die auffallende Betonung solcher Attribute in diversen Randnotizen zum versuchten Anschlag suggerieren das. Was aber bitte soll an einer solchen Tat «nicht extremistisch» sein? Wie kommt es, dass eine Tat, die es so gezielt auf das Leben einer bestimmten Gemeinschaft abgesehen hat, als «nicht extremistisch» bezeichnet wird? Weil es sich beim Täter um einen «psychisch labilen» Mann handelt? Ist es reiner Zufall, wenn sich eine psychisch labile Person in ihrem allfälligen Wahn exklusiv Jüdinnen und Juden als Opfer auswählt?
Wie sehr Antisemitismus auch hierzulande verbreitet ist, zeigte schon der Antisemitismusbericht 2023 des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG). Daraus wird ersichtlich, wie sehr der Antisemitismus nach dem 7. Oktober noch einmal zugenommen hat. Besonders besorgniserregend: die deutliche Zunahme physischer Tätlichkeiten. Aus dem «Antisemitismus der Worte» sei ein «Antisemitismus der Tat» geworden, brachte es Jonathan Kreutner, der Generalsekretär des SIG, Anfang März gegenüber SRF auf den Punkt. Kurz davor war bekannt geworden, dass am 2. März – ebenfalls in Zürich Wiedikon – ein Fünfzehnjähriger mit einem Messer auf einen orthodoxen Juden eingestochen und ihn lebensbedrohlich verletzt hatte.
Aufsehen erregten auch die in der Nacht auf den 7. Juni an Zürcher Galerien geschmierten antiisrealischen und – angesichts der Wahl der Orte mit jüdischen Bezügen – klar antisemitischen Parolen (bis hin zu roten Dreiecken, die die Hamas verwenden, um Ziele für Angriffe zu markieren). Bis heute ist nicht geklärt, welche Täter:innen dahinterstecken. Allein die Tatsache aber, dass man sich realistischerweise durchaus Personen aus ganz unterschiedlichen Milieus (von rechts bis links und unterschiedlichster Herkunft) als mögliche Täter:innenschaft vorstellen kann, zeigt: Antisemitismus findet sich in den unterschiedlichsten Kreisen – in rechten und linken, christlichen und muslimischen, gebildeten und weniger gebildeten. Und eben auch «in der Mitte der Gesellschaft», wie Kreutner im März betonte.
Kein extremistisches Motiv, so also die Zürcher Stadtpolizei, sei beim gerade noch verhinderten Anschlag auf die Synagoge im Vordergrund gestanden. Was nichts an der eigentlichen Tatsache ändert: am Extremismus der Tat. Auch dann nicht, wenn es sich beim Täter um eine «psychisch labile» Person handeln sollte. Oder er aus der Mitte der Gesellschaft kommen sollte.