Arbeit im Strafvollzug: Kein Lohn, keine Ferien – und kein Streikrecht.

«Warum soll ich Ferientage nehmen, wenn ich eingeschlossen bin? Das ergibt doch keinen Sinn. Ich würde am liebsten sieben Tage arbeiten», sagt Markus Reusser*. Und José Pereira* erzählt: «Die Arbeit mit den Autos ist mir im Moment sehr wichtig. Die Garage ist für mich Yogazentrum, Spielplatz und Arbeitswelt zugleich.» Auch Beat Capaul* spricht positiv über seine Arbeit: «Solange ich hier bin, bleibe ich der Schreinerei treu.»
Reusser, Pereira und Capaul, drei Männer zwischen dreissig und Mitte fünfzig. Alle sitzen sie in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies ein.
Ein Freitagnachmittag im Mai. In der Produktionsküche der Pöschwies herrscht reger Betrieb. Es riecht nach Gastroküche. Wer einmal in einer Grossküche gearbeitet hat, vergisst diesen Geruch nie mehr: leicht muffig, eine Mischung aus Gewürzen, Bratfett, Suppe und Pasta. Der Raum ist so gross wie ein Schulzimmer und funktional eingerichtet, mit vielen Chromstahlablagen, verschiebbaren Regalen, riesigen Kochstationen. In einer Ecke belegt ein Mann Wähenböden; hinten im Raum, neben einer gigantischen Kippbratpfanne, schrubben zwei Männer den Boden.
Hier werden pro Tag 2200 Mahlzeiten produziert, für den eigenen Betrieb sowie sechs weitere Gefängnisse in der Region. Markus Reusser sitzt eine neunzehnjährige Gefängnisstrafe ab und absolviert in der Küche eine Lehre. Er sagt, es sei hier fast wie in einer ganz gewöhnlichen Gastroküche: «Der Unterschied zu draussen ist wahrscheinlich, dass die Leute hier drinnen etwas launischer sind.» Und dass er nicht kündigen könne, wenn ihm Kollegen oder Chefs nicht passten.
Dürfte er, würde Reusser sieben Tage die Woche arbeiten, um möglichst viel zu verdienen und seinen Sohn unterstützen zu können. «Der Lohn könnte besser sein», sagt er, aber nicht, wie viel er genau verdient – fügt aber an, dass er in U-Haft mehr verdient habe, weil er Akkordarbeit in der Zelle verrichten konnte und pro Stück bezahlt worden sei. «Da verdiente ich 500 bis 600 Franken im Monat.»
Gefangene der JVA Pöschwies verdienen pro Tag zwischen 10 und 39 Franken. Das sind 1.50 bis 6 Franken pro Stunde bei einem Arbeitstag von 6,5 Stunden. Für Insassen im Normalvollzug ist der Arbeitsbeginn um 7.30 Uhr. Zwischendurch gibt es zwei Pausen sowie Mittagessen inklusive Hofgang. Um 16.40 Uhr ist Arbeitsschluss.
Laut Bundesgericht geht es in den Gefängnissen nicht um «Arbeit», sondern um «Beschäftigung». Diese Unterscheidung schaffe einen besonderen Anspruch an die Art der Arbeit, erklärt Jonas Weber, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern. Beschäftigung sei nicht auf Output ausgerichtet. Ziel müsse sein, die Gefangenen über die jeweilige Tätigkeit zu erreichen und ihre Resozialisierung zu fördern.
Der «Lohn» im Gefängnis ist auch kein eigentlicher Lohn: Gemäss Artikel 83 des Strafgesetzbuchs erhält ein Strafgefangener «ein von seiner Leistung abhängiges und den Umständen angepasstes Entgelt». Je nach Art der Arbeit, der Anstalt, dem Verhalten und der Leistungsfähigkeit des Gefangenen fällt dieses sehr unterschiedlich aus. Eine Umfrage bei Gefängnissen in dreizehn Kantonen zeigt: Am schlechtesten ist die Entschädigung im Kanton Glarus, dort können Gefangene maximal 7.50 Franken pro Tag verdienen, am besten in Basel-Stadt, dort liegt der Maximalverdienst bei 42.50 Franken.
Ob ein Insasse der Pöschwies 10 oder 39 Franken pro Tag verdient, macht für die Häftlinge einen riesigen Unterschied. Die Leistungsbeurteilung, die den Lohn bestimmt, nehmen die Werkmeister vor. Die Beurteilung dürfe sich theoretisch nur auf Aspekte der Arbeit beziehen und nicht darüber hinaus disziplinierend eingesetzt werden, sagt Jonas Weber. Doch kontrolliert werden könne das nur schwer. Wer sich ungerecht bewertet fühle, habe kaum Möglichkeiten, sich zu wehren. Zwar könnten die Gefangenen eine Verfügung verlangen und den Rechtsweg beschreiten. Doch das sei de facto eine hohe Hürde, erklärt der Vollzugsexperte.
Besuch in der Autowerkstatt
Franziska Werder, die Direktionsassistentin der JVA Pöschwies, führt aus der Küche hinaus auf gepflasterte Wege und durch vergitterte Türen. Werder hat die passenden Schlüssel und kann sich zügig zwischen den abgeschlossenen Bereichen bewegen. Eine Treppe führt hinab auf einen grossen Platz. Dort befindet sich ein blaues Tor, der Eingang zur Garage. Herr Sägesser*, der leitende Ausbildner, erwartet uns bereits. Es riecht nach Öl und Benzin. Auf der einen Seite stehen zwei Autos, die zur Reparatur hergebracht wurden – ein Mini Cooper und ein edler bordeauxroter Oldtimer. «So ein Stück kriegt man nicht alle Tage», bemerkt Herr Sägesser. Er trägt einen blauen Overall und sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher Garagist. Die Stimmung ist locker.
José Pereira stösst dazu. Seine Strafe hat er schon verbüsst. Doch weil er nach wie vor als «gefährlich» gilt, ist er weiterhin in einer sogenannten stationären therapeutischen Massnahme, die unbefristet ist, aber alle fünf Jahre überprüft wird. Wann kommt er frei? «Unklar», sagt er, die nächste Überprüfung stehe demnächst an. Pereira absolviert eine Ausbildung zum Reifenpraktiker und blickt bereits auf die Zeit danach: «Wenn ich draussen bin, will ich in Brasilien eine Garage aufbauen und Leute wie mich beschäftigen, die Mühe haben in ihrem Umfeld.»
Die Garage der Pöschwies erledigt nur interne Arbeiten oder Dienstleistungen für Mitarbeitende. In anderen Werkstätten der Pöschwies werden auch externe Aufträge erledigt. Das berge Herausforderungen punkto Sicherheit und Betreuung, sagte Andreas Naegeli, der Direktor der Anstalt, bei einem früheren Besuch. Einmal habe ein Insasse auf die Innenseite von Kronen eines Dreikönigskuchens, den er verpacken musste, geschrieben: «Hergestellt unter Sklavenarbeit». Vielleicht zu Recht? Der Direktor argumentiert dagegen: «Wir erzielen keinen Gewinn, und die Gefangenen sind bei der Arbeit von gut ausgebildeten Mitarbeitenden betreut. Und auch durch die Sicherheitserfordernisse ist vieles aufwendiger. Angesichts dieses Aufwands und kurzfristig gedacht müsste man die Leute auf ihren Zellen lassen.» Das wäre wirtschaftlicher. Der gesetzliche Auftrag sei aber nicht, Gewinn zu machen, sondern Perspektiven für die Wiedereingliederung zu schaffen.
Fragen zu den exakten Aufträgen blocken mehrere Gefängnisse mit der gleichen Begründung ab: Sie dürften von Vertrags wegen nicht über die Auftraggeber:innen sprechen. Zu viel Medienaufmerksamkeit schrecke diese ab – mit fatalen Folgen für das Arbeitsangebot, das für die Beschäftigung der Gefangenen essenziell sei.
Ausbeutung oder Resozialisierung?
Der Rundgang führt weiter in die Schreinerei. Im Eingangsbereich albern zwei Insassen herum. «Jetzt kommt Besuch, jetzt müssen wir uns benehmen», sagt der eine. Es hängen Schläuche von der Decke, die Staub absaugen, Sägen, Fräsen und Schleifmaschinen stehen herum. In einer Ecke Tische und Schränke, die hier produziert wurden.
An einer Werkbank treffen wir Beat Capaul. Er ist eine imposante Erscheinung und lächelt viel. Gross, füllig, mit durchdringenden blauen Augen. «Am 27. Mai beginnt mein viertes Jahr in der Schreinerei», sagt er im Bündner Dialekt. Auch Capaul hat seine Strafe abgesessen und befindet sich in einer therapeutischen Massnahme. «Ich gehe davon aus, dass ich noch eine Weile hierbleiben muss», sagt er. Er steht kurz vor dem Lehrabschluss, sein Abschlussprojekt: ein Arvenbett. «Ich liebe Arvenholz. Das erinnert mich an mein Zuhause.» Mit der Arbeit sei er zufrieden, einzig Ferientage würde er gern nehmen können; er brauche das, um sich zu erholen, vor allem körperlich.
Reusser, Capaul und Pereira absolvieren alle drei eine handwerkliche Ausbildung. Doch der Arbeitsalltag der meisten Inhaftierten sieht anders aus. «Es gibt heute in den Gefängnissen zu viel repetitive Arbeit», sagt Jonas Weber. «Wenn man Resozialisierung anstrebt, sollten konsequent nur Tätigkeiten angeboten werden, die auch in der Aussenwelt existieren.» Beim Korbflechten etwa, wofür es in der Pöschwies vierzehn Arbeitsplätze gibt, sei das nicht der Fall. Auch nicht beim Einpacken von Uhren, über das sich mehrere Inhaftierte gegenüber der WOZ kritisch äussern. Arbeiten also, die sonst Maschinen erledigen, oder Nischenberufe, für die es in der Aussenwelt kaum Angebote gibt. «Die Kombination von geringem Entgelt und monotoner Arbeit ist ein Widerspruch zum Ziel der Resozialisierung», sagt Weber. Alternativen gäbe es durchaus, etwa Arbeiten am Computer, mit Datenbanken oder dergleichen, in kontrolliertem Rahmen mit Internet oder offline. Doch solche Ideen, so Weber, würden von den Behörden in der Regel abgelehnt – aus Sicherheitsgründen.
Forderung nach kollektiver Organisation
Im Gefängnis herrscht Arbeitspflicht. Was aber, wenn sich Inhaftierte widersetzen? Im Kanton Freiburg kam es vor einem Jahr im Zentralgefängnis und in der Vollzugsanstalt Bellechasse zu Streiks. Eine Forderung der Inhaftierten: Sie wollten eine Gefangenengewerkschaft gründen dürfen. Es ging dabei darum, eine Vertretung zu wählen, die sich einmal pro Monat mit der Direktion trifft (und mindestens einmal pro Halbjahr mit einer Verwaltungskommission), um Anliegen und Probleme zu diskutieren. Die Forderung wurde abgelehnt. Die Direktion liess verlauten, es handle sich um gewöhnliche Beschwerden von Gefangenen. Die interne Reaktion sei heftig gewesen, berichtet ein ehemaliger Insasse. Die Direktion verhängte zwei Tage Zelleneinschluss. Womit allen der Verdienst genommen wurde – inklusive jenen, die sich nicht am Streik beteiligt hatten.
Die Forderung nach kollektiver Organisation sei legitim, meint Weber: «Es muss die Möglichkeit geben, sich als Gefangenengewerkschaft zu organisieren.» Die Anstalten müssten solche Vertretungen anerkennen. Weber verweist auf den Insassenrat des Berner Gefängnisses in St. Johannsen am Bielersee. Arbeitsverweigerung jedoch gelte nach wie vor als Disziplinarstraftatbestand. Dabei, so Weber, stelle sich durchaus die Frage, ob es heute noch haltbar sei, Gefangene, die streikten, zu disziplinieren.
* Name geändert
