«Dass mich jemand nervt, gibt es immer wieder» Lieblingsneurosen und Langeweile: Die Analytiker:innen Helena Hermann und Reto Pulver erzählen vom Praxisalltag.

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Helena Hermann und Reto Pulver

WOZ: Erzählen Sie doch mal.

Helena Hermann: (Lacht.) Ja, erzählen Sie mal …

Reto Pulver: Wir wollten ja heute darüber reden, wie man noch Psychoanalyse praktiziert. Da ist vielleicht eine erste Unterscheidung nützlich: Reden wir über Psychoanalyse? Oder über psychoanalytische Psychotherapie?

WOZ: Wo liegt der Unterschied?

Hermann: Psychoanalyse ist die Theorie, eine Art Menschenmodell. Die Therapie ist ein Anwendungsgebiet von mehreren.

Pulver: Ich finde, die meisten therapeutischen Ansätze, auch körperbasierte, haben irgendwie Platz im Gesamtrahmen Psychoanalyse. Indem sie eine Theorie vom Menschen ist, klammert sie konzeptuell eigentlich nichts aus.

WOZ: Liegt man bei Ihnen in der Therapie noch auf einer Couch?

Pulver: Ich habe eine Couch in der Praxis, ja. Für manche Patient:innen kann das nützlich sein.

Hermann: Die meisten sitzen, einzelne liegen. Manchmal hilft die Couch gegen den Druck, interagieren zu müssen, stattdessen lässt sie mehr Raum für die eigenen Gedanken, Gefühle und auch fürs Schweigen.

WOZ: Ist Ihnen dieses Schweigen während einer Therapiesitzung auch manchmal unangenehm?

Pulver: Ja klar kann es das geben! Wie es der Therapeutin geht, ist ja eh eine wichtige Frage. Das sind auch Menschen. Und dass es in Sitzungen Momente gibt, die schwierig sind, gehört zum Job.

Hermann: Es gibt Schweigemomente, die sehr unangenehm sind, in denen sich aber auch etwas zeigt oder eben verbirgt, was für den Patienten gerade schwierig ist.

Pulver: Man merkt in solchen Momenten auch, wie krass das eigentlich ist, wenn zwei Leute auf diese Weise miteinander in Kontakt treten. Darin steckt so viel: potenziell Schwieriges, aber auch Schönes.

Hermann: Orthodoxe Psychoanalytiker:innen schweigen ja fast ausschliesslich. Das machen wir beide nicht, wir sind unseren Patient:innen ein Gegenüber.

WOZ: Wie stark beziehen Sie selbst sich denn eigentlich noch auf Sigmund Freud?

Pulver: Psychoanalyse ist nicht denkbar ohne ihn. Seine Theorie ist die Grundlage. Ich persönlich habe mich dann vor allem noch mit der Strömung von Melanie Klein und ihren Nachfolger:innen beschäftigt. Sie blickt durch eine andere Brille, baut aber auf Freud auf.

Hermann: Man darf die freudsche Theorie nicht als absolut gültig verstehen. So wie andere Theorien auch muss man sie nicht immer eins zu eins übernehmen, es geht um die Auslegung – und darum, welche Teile davon man gebrauchen kann in der eigenen Praxis. Und auch heute wird sie noch weiterentwickelt. Derzeit geht es da auch darum, etwas messen zu wollen, oder um eine sogenannte Manualisierung, also um die Erstellung konkreter Anleitungen und die Formalisierung der einzelnen Schritte einer Therapie.

WOZ: Apropos messen: An den Universitäten sind andere Therapieansätze wie die praxisorientierte kognitive Verhaltenstherapie heute viel wichtiger als die Analyse. Im Psychologiestudium beschäftigt man sich mit Statistik und Neurologie. Vielleicht entspricht das einem aktuellen Zeitgeist – wie verhält sich die Psychoanalyse dazu?

Hermann: Wahrscheinlich verhält sie sich nicht so gut. Beim Anspruch an Effizienz und Geschwindigkeit bestehen Unterschiede zu anderen Therapieansätzen. In der psychoanalytischen Therapie gibt es keine Zielformulierungen im engeren Sinn, vielleicht einen thematischen Fokus, jedoch keinen Fahrplan dafür, in welcher Stunde man was erreichen will; sie ist charakterisiert durch eine grosse Offenheit im Prozess.

Pulver: Sie hat Mühe, sich zu behaupten. Aber eigentlich bezweifle ich, dass sie gegenüber dem Quantitativen tatsächlich eine Schwäche hat. Die Wirksamkeit von psychoanalytischen Therapien lässt sich belegen. Das muss immer wieder gesagt werden: Viele Studien haben nachgewiesen, dass sie mindestens so gut wirkt wie andere Methoden, langfristig sogar besser.

WOZ: Wie sieht es denn mit der Erfolgsquote in Ihrer eigenen Praxis aus?

Pulver: Ehrlich gesagt: gut! Bei den meisten hilft die Therapie ziemlich schnell.

Hermann: Quoten sind schwierig. Es kommt darauf an, woran man das messen soll: Geht es bloss um die Symptome – oder auch um Veränderungen auf einer tieferen Ebene der Persönlichkeit? Sicherlich kommt es vor, wenn auch sehr selten, dass jemand kaum oder gar nicht von einer Therapie profitiert.

WOZ: Wie halten Sie es mit Diagnosen? Stellen Sie die bloss, weil die Krankenkassen es verlangen?

Hermann: Meistens habe ich das Gefühl, ich müsse jetzt einfach eine Schublade auswählen, der ich den Patienten zuteile. Für meine Arbeit brauche ich diese standardisierten Diagnosen nicht.

Pulver: Die Geschichte hinter den sogenannten ICD-Diagnosen ist ja, dass diese eigentlich für die Forschung konzipiert wurden und nicht für die Therapieplanung. Diesen Anspruch gab es gar nie, trotzdem werden sie jetzt so verwendet, vor allem im Auftrag der Krankenkassen. Aber darüber, wie krank jemand tatsächlich ist, was dagegen helfen würde, wie lange die Behandlung dauern wird – darüber sagen sie überhaupt nichts aus. Deshalb sind sie auch wenig nützlich.

WOZ: Wer sich auf Tiktok umsieht und Zeitungen liest, bekommt den Eindruck, das Konzept sei derzeit populär.

Hermann: Ein Beispiel ist die ADHS-Diagnose. Wir diskutieren das Thema auch unter Kolleg:innen, und es ist eindrücklich, wie viel Widerstand gegen diese Art «Trenddiagnose» unter Psychoanalytiker:innen aufkommt. Das liegt wohl auch an dieser spezifischen Diagnose, die es an sich zu haben scheint, dass manche Leute sie sich wünschen. Dann hat man ein Häkchen gemacht, kriegt vielleicht noch ein Medikament, aber was das für die ganze Psychodynamik bedeutet, was da individuell alles noch dahintersteckt, das wäre ja eigentlich die wichtige Frage.

Pulver: Wenn die Diagnose zu einer Hilfsidentität wird, wird es problematisch.

WOZ: Das heisst?

Pulver: Wenn man merkt, dass jemand Halt sucht– und ihn in dieser Diagnose findet. Das ist grundsätzlich okay und kein Phänomen, das die Psychoanalyse überrascht. Man weiss, dass sich die Psyche alles Mögliche zur Hilfe nimmt, um sich Halt zu verschaffen. Das kann eine Diagnose, ein Fetisch oder was auch immer sein. Oft ist das ein Durchgangsstadium. Wenn der Prozess dort aber stehen bleibt, ist das schade. Denn auf die Ebene des individuellen Menschen gelangt man so nicht. Wenn ich merke, dass die Diagnose einer Patientin wichtig ist, arbeite ich zunächst zwar damit. Nach einiger Zeit weise ich sie aber vielleicht auch darauf hin, dass die Diagnose zwar eine Funktion erfüllt, dass man sich ihrer aber auch entledigen könnte, weil sie einschränkend sein kann.

WOZ: Stellen wir uns einen jungen Mann vor, der es nicht schafft, seine Briefe zu öffnen. Wie gehen Sie vor?

Hermann: Es ist wichtig, diese Alltagsthematiken ernst zu nehmen und je nachdem erst mal ganz pragmatisch anzugehen: Was könnte helfen? Aber im besten Fall bleibt der Prozess nicht dort stehen. Sondern man erfährt etwas über den Patienten, über seine Beziehungen zu sich selber und zu anderen.

Pulver: Es gibt dieses Vorurteil, Psychoanalyse foutiere sich um den Alltag. Das stimmt nicht. Genau darum geht es ja. Wenn dieser junge Mann zu mir kommt, muss man sich doch fragen, was da genau passiert. Wieso können Sie den Brief nicht öffnen? Woran scheitert es? Und zu welchem Zeitpunkt? Man zoomt dann richtig rein. Hinter dem Problem steckt eine Geschichte, stecken Fantasien. Womit assoziiert er den Brief? Was stellt er sich unbewusst oder auch bewusst vor, wenn er ihn weglegt? An diesen Fragen muss man gemeinsam arbeiten, sodass man zu den Ängsten und zur Scham vorstossen und herausfinden kann, was da eigentlich los ist, auch unbewusst. So wird man im besten Fall das Symptom wieder los.

WOZ: Gibt es Neurosen, die Sie lieber haben als andere? Denkt man sich als Therapeutin zum Beispiel: Cool, endlich mal wieder eine Patientin mit Zwangsneurose?

Pulver: Es geht eher um den Menschen als um sein Problem. Wenn ein Mensch eine Zwangsneurose gebildet hat, dann gehört das zu diesem Menschen und seiner Geschichte. Und dann gibt es Persönlichkeiten, mit denen ich in der Zusammenarbeit mehr Mühe habe als mit anderen.

WOZ: Kommt es oft vor, dass Sie jemand nervt? Dass Sie sich denken: «Reiss dich doch einfach zusammen»?

Hermann: Ja, das gibt es immer wieder. Das gehört dazu, man nennt das Gegenübertragung, so bezeichnete Freud die Gefühle, Vorurteile und Wünsche, mit denen die Therapeutin auf den Patienten reagiert. Damit arbeitet man auch, muss aber versuchen, diese unangenehmen Emotionen nicht auszuagieren. Starke Müdigkeit ist auch so ein Beispiel. Das gibt es immer wieder. Dass man die Augen fast nicht mehr offen halten kann.

WOZ: Sind Sie sich sicher, dass es Ihnen nicht einfach langweilig ist?

Hermann: Also Langeweile gibt es natürlich auch, das ist aber ein anderes Gefühl. Die Müdigkeit hat oft etwas mit abgewehrten Aggressionen zu tun. Meistens wird es besser, wenn der Gegenstand dieser Aggression angesprochen wird. Dann ist man auf einmal wieder hellwach. Das ist schon eindrücklich.

Pulver: Man setzt sich etwas aus, wenn man ohne Plan in Kontakt tritt mit jemandem, auch den eigenen Reaktionen. Und ist dann gefordert, diese nicht auszulassen, sondern sie zu benutzen: Vielleicht sagt mein Gefühl etwas darüber aus, wo die Person steht.

WOZ: Der Fachbegriff für diese Denk- und Gefühlsprozesse lautet «Fantasietätigkeit» – wieso ist diese so wichtig?

Pulver: Weil in der Psychoanalyse das Unbewusste kommuniziert. Und zwar wirklich unter oder zwischen dem Gesagten, dem Bewussten und dem Intendierten. Da läuft etwas, ob man das will oder nicht. Bei beiden, auch bei der Analytikerin. Und das ist wesentlich, weil du als Therapeutin das Unbewusste des Gegenübers verstehen willst. Dabei hilft dir das eigene Unbewusste, und Fantasietätigkeiten sind Ableger davon. Das ist ein abgefahrenes Konzept, aber total wichtig.

Hermann: Wenn man nur im logischen Denken bleibt, dann verpasst man wichtige Dinge. Das Fantasieren soll man nicht unterbinden. Und etwas von dem, was über diese Fantasie entsteht, kann auch wieder versprachlicht und in etwas Bewusstes überführt werden. Das ist dann der Job des Therapeuten.

Pulver: Ein Beispiel: In einer Sitzung merke ich, da entsteht eine Fantasie in mir, ein Gefühl. Das analysiere ich dann innerlich, vielleicht spüre ich etwa: Verlassenheit. Dann frage ich mich: Könnte diese Verlassenheit etwas mit dem zu tun haben, was mir die Patientin gerade gesagt hat?

WOZ: Und das funktioniert wirklich? Ist das nicht Esoterik?

Pulver: Nein! So funktionieren ja auch Kinder mit ihren Vätern und Müttern. Über das Präverbale. Weil es gar nichts anderes gibt.

Hermann: Es geht um diese Einfühlung, wie bei einer Mutter, die ihren Säugling verstehen muss, obwohl er noch nicht reden kann.

WOZ: Wie elitär ist es, eine Analyse zu machen? Stimmt das Klischee, dass das heute vor allem noch junge, urbane Linke tun?

Pulver: Ich glaube, es gibt da einen inneren Zusammenhang: Rechts zu denken, verträgt sich schlecht mit den Ideen, Zielen und Prämissen der Psychoanalyse.

Hermann: Vielleicht mit der Psychotherapie grundsätzlich?

Pulver: Mit Psychotherapie grundsätzlich und mit Psychoanalyse besonders. Verantwortung zu übernehmen, genau auf sich selbst zu schauen, keine Angst und keinen Hass zu projizieren.

Hermann: Meine Patient:innen sind schon zu einem grossen Teil Akademiker:innen, was aber auch daran liegt, dass mir viele von ihnen von der Beratungsstelle der Universität vermittelt werden. Nichtakademiker:innen gibt es auch, sie kommen aber in der Regel weniger früh, sondern erst, wenn es nicht mehr anders geht.

Pulver: Diese Erfahrung teile ich. Ist das elitär? Klar ist das privilegiert, trotz Kassenbeteiligung: Es gibt sehr viele Leute, die eine solche Therapie nicht in ihren Arbeitsalltag integrieren können.

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