Feministischer Aufschwung: «Darüber nachdenken, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein»

Nr. 39 –

Soziologin Yige Dong erklärt, warum Chinas Geburtenkrise auch eine Pflegekrise ist – und ein dem Kapitalismus immanenter Widerspruch.

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Portraitfoto von Yige Dong
Yige Dong, Soziologin

WOZ: Was wird mit dem Begriff der sozialen Reproduktion beschrieben?

Yige Dong: Soziale Reproduktion beschreibt die Aufrechterhaltung von Bedingungen, die kapitalistische Gesellschaften am Laufen halten. Sie umfasst alltägliche Tätigkeiten wie Putzen, Kochen, die Versorgung Heranwachsender, Alter und Kranker, aber auch systemtragende Institutionen wie das Gesundheits-, das Renten- und das Bildungssystem. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang das Spannungsverhältnis zwischen der Wiederherstellung für das System notwendiger Bedingungen durch die soziale Reproduktion einerseits und die Nichtentlohnung und Abwertung der sozial reproduktiven Tätigkeiten andererseits.

WOZ: Was ist das Besondere im chinesischen Kontext?

Yige Dong: China ist ein Sonderfall, weil das Land eine sozialistische Vergangenheit hat. Der chinesische Staat benannte die soziale Reproduktion als wichtiges Feld. Das wird deutlich, wenn wir uns die sozialistischen Unternehmen als Kern des Systems sozialistischer Arbeitseinheiten ansehen. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) versuchte, sich als Regierungspartei zu legitimieren, indem sie sagte: «Unser System ist besser als der Kapitalismus, weil wir in der Lage sind, den Arbeiter:innen in den staatlichen Unternehmen Wohlfahrt von der Wiege bis zur Bahre zu bieten.»

Yige Dong: Allerdings gehört China heute, nachdem die KPCh den Weg zum Kapitalismus eingeschlagen hat, zu den Ländern mit den geringsten Sozialleistungen, wenn man vergleicht, wie viel jeweils im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt für Sozialleistungen, Pflege und Bildung ausgegeben wird. Zwar ist die Reproduktion der Arbeitskräfte für Chinas Wirtschaft entscheidend. Was die soziale Reproduktion angeht, steht das Land jedoch sehr schlecht da, insbesondere im Hinblick auf Leistungen für die Landbevölkerung.

WOZ: Was sind die Ursachen für die Krise in China?

Yige Dong: In den achtziger Jahren lebten noch achtzig Prozent der chinesischen Bevölkerung auf dem Land. Mit den Marktreformen konnten Landbewohner:innen in die Städte ziehen, um dort ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Viele der ländlichen Migrantinnen arbeiteten im informellen Pflegesektor. Während sich in vielen Industrieländern mit hohen Einkommen selbst die meisten Mittelklassefamilien die Beschäftigung einer Hausangestellten nicht leisten können, sind in Chinas Städten viele Familien mit doppeltem Einkommen und Angestelltenjobs in der Lage, eine Pflegekraft zu bezahlen, weil die migrantischen Arbeitskräfte so «billig» sind. Das liegt daran, dass diese Migrantinnen in der Stadt in Fabriken oder in der häuslichen Pflege arbeiten, während ihre eigene soziale Reproduktion, zumindest bis vor kurzem, im Dorf zu sehr niedrigen Kosten stattgefunden hat. Denn ihre Eltern blieben auf dem Land und kümmerten sich neben ihrer landwirtschaftlichen Nebenerwerbsarbeit auch um ihre Enkel.

Yige Dong: Die Krise der sozialen Reproduktion besteht darin, dass dieses Zweiklassensystem bröckelt. Die Lebenshaltungskosten von Wanderarbeiter:innen sind enorm gestiegen, etwa die Kosten für Bildung und Gesundheit. Sie brauchen also Jobs mit höheren Löhnen, und ausserdem wollen sie nicht mehr in den Fabriken arbeiten. Die Wanderarbeiter:innenlöhne sind jedoch relativ niedrig geblieben, sodass sich die Wanderarbeiter:innen ihre eigene soziale Reproduktion nicht mehr leisten können. Nun fragt sich, was passiert, wenn dieses Zweiklassensystem zusammenbricht. Dies ist ein dem Kapitalismus immanenter Widerspruch: Es muss für die Kapitalakkumulation immer ein Heer billiger und prekärer Arbeitskräfte geben; diese bilden das Rückgrat der Wirtschaft, sie können sich jedoch aufgrund der staatlichen Austerität nicht mehr reproduzieren.

WOZ: Wie geht der chinesische Staat mit der Krise um?

Yige Dong: Er sieht den dringenden Bedarf an mehr Arbeitskräften für die Pflegearbeit, insbesondere für Ältere. Chinas Bevölkerung altert sehr schnell. Die Leute wollen in diesem Sektor jedoch nicht arbeiten, weil die Arbeit anstrengend und der Lohn niedrig ist. Gleichzeitig gibt es nicht genug Kinder, um alle Plätze in den Kindergärten zu besetzen. Kindergärten und Grundschulen müssen schliessen.

Yige Dong: Der Staat versucht, die Geburtenrate zu erhöhen. Viele Provinzen haben begonnen, Kindergeld zu gewähren, etwa einige Tausend Yuan für ein Neugeborenes. Das ist jedoch nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Es reicht nicht, Familien Geld zu geben, damit sie sich sofort entscheiden, mehr Kinder zu bekommen. Wir haben es bereits mit einem systemischen Problem zu tun. Die Menschen sind pessimistisch, und sie wollen unter diesen Bedingungen kein neues menschliches Wesen in die Welt setzen.

WOZ: Wie haben Frauen auf ihre schwierige Lage reagiert?

Yige Dong: Ich habe mit vielen Wanderarbeiterinnen und entlassenen Arbeiterinnen in den Städten gesprochen. Vor allem Frauen aus ländlichen Gebieten leiden unter dem patriarchalischen System und dem Sexismus. Sie machen jedoch nicht einfach das, was die Familie von ihnen erwartet.

Yige Dong: Arbeiterinnen in Elektronikfabriken von Foxconn, mit denen ich sprach, schrieben auf dem chinesischen Dienst WeChat: «Ich muss zuerst darüber nachdenken, was es bedeutet, heute eine Frau sein zu können. Ich muss etwas für mich selbst tun.» In den letzten anderthalb Jahrzehnten hat es zudem einen erfreulichen feministischen Aufschwung gegeben, der vor allem von jungen, besser ausgebildeten, städtischen Frauen vorangetrieben wurde. Sie forderten Mutterschaftsurlaub und sprachen sich gegen sexuelle Belästigung aus. Sie haben die Einstellungen in der Bevölkerung bereits deutlich verändern können. Der Staat stellt sich nicht taub, er kooptiert die Forderungen, weil viele sie unterstützt haben. Gleichzeitig verhaftet er die Feministinnen, die diese Forderungen ursprünglich aufgestellt haben.

WOZ: Wie wird die Krise der sozialen Reproduktion weitergehen?

Yige Dong: Wir werden wohl eine noch stärkere Kooptierung feministischer Forderungen durch Staat und Wirtschaft erleben. Es würde mich nicht wundern, wenn der Staat in naher Zukunft weitere Unterstützungszahlungen einführen würde, um die Fertilität zu erhöhen und die Pflegekrise für Alte abzufedern. Und die Kommerzialisierung von Pflegedienstleistungen, insbesondere derer für Alte, könnte weitergehen. Möglicherweise wird der Staat auch beginnen, ausländische Gastarbeiter:innen anzuwerben, um einen Teil des Arbeitskräftemangels auszugleichen. Das wäre eine bedeutende Wende.

Yige Dong: Derweil ziehen immer noch mehr Leute in die Städte, und die Lebenshaltungskosten steigen weiter. Das bedeutet, der Staat muss die Sozialleistungen verbessern. Er ist jedoch bankrott. Viele Provinzregierungen haben buchstäblich kein Geld mehr. Deswegen sagt die Regierung, dass die Familien sich um sich selbst kümmern müssen. Wer reich ist, kann sich die notwendigen Pflegedienstleistungen leisten, wer arm ist, wird das nicht schaffen.

Yige Dong ist Assistenzprofessorin für Soziologie, globale Geschlechter- und Sexualitätsforschung an der Buffalo-Universität im Bundesstaat New York. Zu ihren Fachgebieten gehören politische Ökonomie und Arbeit. Sie arbeitet an einem Buch, das Chinas Transformation der Care-Politik aus Perspektive der Arbeiter:innen seit 1920 erforscht.