In mir die Wände (4) : Fremd gemacht

Wer das Fremde besonders intensiv fürchtet, macht diese Angst nicht selten zu seinem Massstab. Der legt fest, was Norm ist, was erlaubt und was verboten – und duldet keine Abweichung. Entscheidet, wer dazugehört und wer draussen bleibt. Wer es reinschafft, wird eingespannt, geglättet, gestanzt, abgekantet – in Form gebracht, bis nichts Überstehendes mehr sichtbar ist.
Dahinter steckt mehr als nur der Wille zur Kontrolle oder der Zugriff auf Ressourcen. Dahinter steckt: Angst. Die Angst vor der eigenen Vielgestaltigkeit, die Furcht vor den Rissen, die im Inneren lauern, vor den Brüchen, die nicht zu kitten sind. Die Angst, dass auch die eigene Identität kein solider Block ist, sondern ein wackliges Gerüst, das auseinanderfallen könnte. Und genau deshalb richtet sich der Finger auf dich. Genau deshalb werden Schablonen gebaut, Etiketten verteilt, Wände hochgezogen. Es ist der Versuch, das Eigene zu stabilisieren, indem das Andere ausgesondert wird. Nicht ich – du bist fremd. Und jetzt alle zusammen: Nicht wir – ihr! Wir, ihr!
Zuerst schreibt es sich in deine Pupillen ein, kriecht unter deine Haut, infiziert dein Denken, wird zu deinem Atem. Es bleibt nicht in deinem Körper, breitet sich aus, wird zum Raum: zum Kindergarten, wo dein Name nicht richtig ausgesprochen wird; zur Pause, in der dein Essen falsch riecht; zum Dorffest, wo deine Mutter verloren am Rand steht; zum Grenzübergang, den du nicht überschreiten darfst; zur Politik, die dich diskutiert, als wärst du ein Virus; zu deinem Ausweis, der sagt, du seist vorläufig; zum Globus, auf dem du dein Land nicht findest; zur Sonne, die alles überstrahlt. Sich überall spiegelt, so grell, bis du nachts vor dem Einschlafen nichts mehr siehst.
Und dann wird es zu deiner Stimme, kehrt aus dem Raum zurück in deinen Kopf und flüstert dir zu: Du bist fremd. Du bist fremd. Du bist fremd.
So lange, bis du es aussprichst: Ich bin fremd.
In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Rosenstrasse 42.