Rechtsrutsch in Bundesbern: Was stoppt die Gerölllawine?

Nr. 2 –

Immer weiter nach rechts: wie der Rechtsrutsch in Parlament und Bundesrat seit den letzten Wahlen zustande kam – und warum er angreifbar ist.

Politiker:innen in der Wandelhalle des Bundeshaus
Blick ins Bundeshaus: Zuverlässige Mitte-Links-Allianzen gibt es in diesem Parlament kaum mehr. Foto: Rob Lewis, Parlamentsdienste

Aufrüstung, drastische Sparmassnahmen und Asylverschärfungen – in der vor Weihnachten zu Ende gegangenen Wintersession wurde noch einmal deutlich, wie weit das Parlament seit den Wahlen vor gut einem Jahr nach rechts gerückt ist: In Bern dominieren neoliberale Ordnungshüter:innen, die den Staat als Mittel betrachten, um soziale Hierarchien zu festigen. Die gegen oben kuschen und nach unten disziplinieren. Unter Druck ist im Parlament dagegen alles, was sich dem Ordnungs- und Profitgedanken entzieht: der Klima- und Umweltschutz, die soziale Sicherung, der Rechtsschutz von Asylsuchenden oder die internationale Entwicklungszusammenarbeit. Oder anders gesagt: jeglicher emanzipatorische Fortschritt.

Doch wie konnte es so weit kommen?

Die Frage stellt sich vor den Festtagen auch der langjährige Grünen-Nationalrat Balthasar Glättli. Im weihnachtlich dekorierten Bundeshaus sagt er: «Es kommt mir vor wie eine Gerölllawine, die sich langsam formiert und dann immer schneller den Hang hinunterrollt.» Die rechte Mehrheit agiere in Bern ohne «echte Koordination oder formellen bürgerlichen Schulterschluss». «Vielmehr ist es ein gefühltes Chaos. Aber der Effekt ist dann eben doch einheitlich.»

Tatsächlich setzt sich der Rechtsruck der Schweizer Bundespolitik aus vielen Einzelelementen zusammen, die sich gegenseitig verstärken. Eines der wichtigsten? Die «Aargauisierung» der FDP.

Der Freisinn unter Aargauer Führung

Klare Siegerin der letzten Parlamentswahlen im Herbst 2023 war die SVP: Neun Sitze gewann sie mit ihrem hetzerischen Wahlkampf dazu. Doch im Windschatten der radikalisierten SVP sorgt eine andere Partei in Bern für die Normalisierung der Hetze: die FDP. Thierry Burkart, seit 2021 Parteipräsident, hat sie stark nach rechts verschoben – gerade in der Asylpolitik. War diese früher einzelnen Scharfmachern wie dem Luzerner Ständerat Damian Müller* überlassen, hat der aus dem Aargau stammende Burkart diese zur Chefsache erklärt – und eine schrille Rhetorik angeschlagen: In einem Interview mit der NZZ sprach Burkart etwa von der «schieren Masse junger muslimischer Männer», die «die freiheitliche Ordnung» gefährde (siehe WOZ Nr. 38/24).

Im Parlament treibt die FDP Asylverschärfungen mit voran: in der Wintersession etwa beim Entscheid zum Schutzstatus S, den künftig nur noch jene Ukrainer:innen automatisch erhalten sollen, die aus russisch besetzten oder «umkämpften» Gebieten kommen. Die Mehrheit im Nationalrat und der FDP stimmte in der Herbstsession auch dafür, vorläufig Aufgenommenen den Familiennachzug zu verwehren; nur zwei Stimmen im Ständerat verhinderten das schliesslich in der Wintersession. GLP-Nationalrätin Corina Gredig, die dem progressiven Flügel ihrer Fraktion angehört, fragt im weihnachtlichen Parlament: «Wo sind die Freisinnigen mit einem staatspolitischen Gewissen? Wo die Kräfte, die den Schutz des Rechts über Macht stellen? Von ihnen höre ich nichts mehr.» Stattdessen sehe sie «Rechtssinnige» in einem «Rückzugsgefecht».

Die «Aargauisierung» der FDP zeigt sich besonders akzentuiert auch in der Umwelt- und Energiepolitik. Unter Atombefürworter und Lastwagenlobbyist Burkart (er präsidiert den Schweizerischen Nutzfahrzeugverband Astag) hat sich die Fraktion von der «grünen Wende» seiner Vorgängerin Petra Gössi verabschiedet. Unliebsame Parlamentarier:innen werden von den Schalthebeln entfernt: Der Aargauer Umweltfreisinnige Matthias Jauslin musste Ende 2023 unfreiwillig die Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie verlassen, weil er in Sachen Biodiversität und Energiefragen zu wenig auf Parteilinie war. Ersetzt wurde er durch den Berner Hardliner Christian Wasserfallen, der voraussichtlich vor allem das Comeback von AKWs in der zukünftigen Energieplanung vorantreiben wird.

Rösti und Keller-Sutter: Unverfroren

Ein weiteres Element, das die rechte Lawine ins Rutschen gebracht hat: der neue Wind im Bundesrat. Der SP-Kofraktionsvorsitzende Samuel Bendahan sagt in der Wintersession: «Ich sehe einen Kulturwandel in der Regierung.» Früher habe diese viel mehr als Team funktioniert. «Heute werden oft keine Kompromisse mehr ins Parlament getragen, sondern die Eigeninteressen der einzelnen Bundesrät:innen.»

Dank der Zauberformel verfügen SVP und FDP im Bundesrat über eine Mehrheit, die nicht ihrem Wähler:innenanteil entspricht. SVP-Bundesrat Albert Rösti und FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter werden oft als das Powerduo der Regierung beschrieben. Wie viel des ihnen zugeschriebenen strategischen Geschicks beide tatsächlich mitbringen – wer kann das vom Schreibpult aus schon beurteilen? Deutlich zutage tritt hingegen die Unverfrorenheit, mit der sowohl Rösti als auch Keller-Sutter für die eigenen Parteiinteressen arbeiten.

Umwelt- und Medienminister Rösti ist Ansprechpartner für alle möglichen Lobbygruppen, von den Walliser Schafhirten bis zu den Atomfreunden. Geschäfte, die ihm am Herzen liegen, wie die Senkung der Radio- und Fernsehgebühren oder eine Lockerung des Wolfsschutzes, setzt er gerne per Verordnung um. Departementsintern torpediert er Forschungsprojekte im Klima- und Biodiversitätsbereich (siehe WOZ Nr. 51/24).

Finanzministerin Karin Keller-Sutter wiederum liefert der rechten Mehrheit im Parlament mit ihrer Fetischisierung der Schuldenbremse das Instrument und die Legitimation für das Streichen unliebsamer Budgetposten. Das Sparpaket, das Keller-Sutter nach den Empfehlungen der «Expertengruppe Gaillard» geschnürt hat, schwebt wie ein Damoklesschwert über den Debatten im Parlament.

Die Sparkeule

Wobei die Sparkeule nur dort hervorgeholt wird, wo sie im Sinne der rechtsbürgerlichen Mehrheit ist. Unter dem Eindruck des Krieges gegen die Ukraine will die Mehrheit des Parlaments bekanntlich enorm aufrüsten und bis 2028 vier Milliarden Franken mehr für die Armee ausgeben als vom Bundesrat vorgeschlagen. In der Wintersession sprach die Parlamentsmehrheit fürs kommende Jahr zusätzliche 530 Millionen. Eine Strategie, wie dieses Geld auszugeben ist, existiert indes nicht. Balthasar Glättli, der in der Sicherheitspolitischen Kommission sitzt, sagt: «Es ergibt null Sinn, nun einfach möglichst rasch Geld auszugeben. Derzeit sind Waffen auf dem Weltmarkt extrem teuer. Zudem kaufen wir sie einfach der Ukraine weg, die sie viel dringender braucht. Ich bin seit 2011 im Parlament und habe noch nie eine so irrationale Armeedebatte erlebt.»

Eingespart wird das Geld für die Armee vorerst bei der Auslandshilfe (110 Millionen Franken), im Asylwesen (185 Millionen) und beim Bundespersonal (155 Millionen) – während die Landwirt:innen 47 Millionen mehr als vom Bundesrat vorgeschlagen erhalten. Sparübungen drohen hingegen etwa auch bei der Kitafinanzierung, beim öffentlichen Verkehr oder bei der Prämienverbilligung. SP-Kopräsidentin Mattea Meyer sagt in der Wandelhalle: «Die Schuldenbremse wird vorgeschoben, um eine Verteilungspolitik von unten nach oben durchzudrücken. Wenn es um die eigene Klientel geht, ist für Mitte-Rechts Geld da. Bei Armutsbetroffenen, Menschen auf der Flucht, Kranken und Alten, aber auch beim Mittelstand hingegen liefern sie sich einen Wettbewerb, wer noch härter sein kann.»

Ein Praxisbeispiel für nonchalantes Umverteilen: Vor Weihnachten entschied der Bundesrat, dass Gutverdienende ab Januar Nachzahlungen in die dritte Säule machen können, was jährliche Steuereinbussen von geschätzt 100 bis 150 Millionen Franken bringen wird. Das Parlament wiederum stimmte für eine Erhöhung der Krankenkassen-Mindestfranchise, was vor allem vulnerable, chronisch kranke Menschen treffen wird.

Die Desorientierung der Mitte

Doch der Rechtsrutsch wäre nicht komplett ohne die desorientierte Mitte. Ein Paradebeispiel dafür, wie unkontrolliert die noch von Gerhard Pfister präsidierte Partei agiert, war das Chaos um den «15-Milliarden-Deal». Eine Mitte-Links-Allianz wollte im Sommer die Ukrainehilfe und die Armeeaufrüstung mittels eines neu geschaffenen Fonds an der Schuldenbremse vorbeischleusen. Doch die Mitte-Fraktion, die den Deal zunächst im Ständerat eingebracht hatte, versenkte ihn dann auch wieder.

Die Mitte agiert im Bundeshaus wie eine Kreatur mit mehreren Köpfen. Ob bei Asylthemen, in der Wirtschaftspolitik oder bei der Energie- und Umweltpolitik: Nie ist vorauszusehen, wie sich die Fraktion genau verhalten wird. «Die Mitte ist zersplittert und hebt sich in den beiden Räten oft auf», sagt Gredig. Unter dem Strich schmiegt aber auch sie sich bei der rechten Mehrheit an. Mal hat dabei der Ständerat mehr Rechtsdrall (etwa bei der Energiedebatte), mal der Nationalrat (beim Budget). Und manchmal verhelfen einzelne Mitte-Politiker:innen in beiden Räten rechten Anliegen zum Durchbruch, wie beim Entscheid zum Schutzstatus S. Die Folge: Zuverlässige Mitte-Links-Allianzen gibt es in diesem Parlament kaum mehr. Die EVP sei «einsame Ruferin in der Wüste», sagt in der Wandelhalle EVP-Nationalrat Nik Gugger, der zum sozialen Flügel der Mitte-Fraktion gehört. Allgemein herrsche in Bern «ein gewisses ‹Switzerland First›-Denken». Auch GLP-Nationalrätin Gredig sagt: «Man muss mit sehr wenig zufrieden sein; erreichbar sind derzeit vor allem gesellschaftspolitische Fortschritte ohne ein Preisschild.»

Und nun?

Wie lässt sich die Lawine stoppen? Beim Blick nach vorne kann der Linken vor allem eines etwas Mut machen: die vielen Abstimmungen, die sie seit den Wahlen gewonnen hat, in erster Linie in sozialpolitischen Fragen, wie das historische Ja zur 13. AHV. Zuletzt mit dem Autobahn-Nein, aber auch in der Umweltpolitik. Dass die Linken Abstimmungen gewinnen, wenn das rechte Parlament überbordet, entbehrt nicht einer gewissen Logik. Die Erfolge deuten aber auch darauf hin, dass die Bevölkerung bei vielen sachpolitischen Fragen schlicht progressiver tickt als das Parlament und der Bundesrat (siehe WOZ Nr. 48/24).

Ihre Referendumsmacht gibt der Linken auch im Parlament einen gewissen Handlungsspielraum zurück: Nach dem Nein zu den Mietvorlagen vom 24. November etwa wird sich die rechte Parlamentsmehrheit wohl vor einer weiteren Aushöhlung des Mietrechts hüten. Jeder Abstimmungskampf sei wichtig für die Debatte inner- und ausserhalb des Parlaments, sagt Mattea Meyer. Und Balthasar Glättli spricht von «Steinbrocken, die wir gezielt in die Gerölllawine werfen können, um Verheerungen zu verhindern, die Lawine umzulenken …».

Wenn die Linke künftig Wahlen gewinnen will, muss sie allerdings den Diskurs über die einzelnen Sachdebatten hinaus verschieben. Wie dies gelingen kann – das bleibt auch 2025 die grosse ungelöste Frage.

* Korrigenda vom 9. Januar 2025: In der gedruckten Ausgabe sowie in der ursprünglichen Onlineversion stand fälschlicherweise, Damian Müller sei Aargauer.